Verstörung (1967)

Ein Landarzt nimmt seinen Sohn, einen Studenten der Montanistik, mit auf Krankenbesuche innerhalb einer modellhaft angelegten Landschaft in der Steiermark. Dies ist Reaktion auf den Brief des Sohnes, in dem nach der Schuld am Selbstmordversuch der Schwester und am Tod der Mutter gefragt wird. Viel verstörende Krankheit gibt es auf dem Weg der beiden, der nicht nur in topographischer Hinsicht nach oben führt, zu beobachten: Körperverletzung und Totschlag (Bergmänner und Gastwirtsfrau), philosophische Kopfschmerzen (Realitätenvermittler Bloch), Sterbeprozesse (die Ebenhöh), Diabetes, Macht, Inzest und Einsamkeit (der Industrielle), sexuell-geistige Irrungen und Wirrungen (der Lehrer in Salla), faulendes Fleisch (Fochlermühle), Verkrüppelungen (der Musiker Krainer) und schließlich den am Wahnsinn erkrankten Fürsten Saurau. In dessen Monolog löst sich die Handlung vollends auf. Vater und Sohn sind bloße Zuhörer dieses sprachlichen Krankheitssymptoms, das Naturphilosophie und Selbstreflexion miteinander kurzschließt.

Verstörung sollte ursprünglich Das Hirn heißen. Das Kernstück, der Monolog des Fürsten Saurau, hätte den Titel gerechtfertigt. Auf seiner Burg Hochgobernitz, wo er sich radikal von der im politischen und geistigen Verfallszustand befindlichen Umgebung abgrenzt, reflektiert er auf aphoristisch-sprunghafte Weise über sein leidvoll vereinzeltes Dasein. Gewissermaßen als Brennpunkte des Redestroms fungieren dabei die Erzählung Sauraus vom Engagement eines neuen, zeitgemäß-wissenschaftlich denkenden Gutsverwalters, seine Schilderung einer Hochwasserkatastrophe als Beispiel für den „Zersetzungsprozeß der Natur“, sein Bericht vom Selbstmord des Vaters sowie sein Traum von der Vernichtung des Familienbesitzes durch den eigenen Sohn. Ansonsten wird sein Denken von einer Reihe zwanghaft wiederkehrender Themen und Motive beherrscht, vor allem von der Klage über eine nur noch als theatralisch wahrgenommene Weltsituation, in der jegliche kulturelle Überlieferung zur sinnentleert ablaufenden Komödie verkommen ist, sowie über die absolute Verwissenschaftlichung allen Lebens, über das unüberblickbar gewordene „Zahlen- und Ziffern-, Chiffern- und Naturlabyrinth“.

Was das restliche Personal betrifft, wirkt Verstörung wie die Vorwegnahme vieler späterer Texte Bernhards. Einige Figuren-Prototypen und charakteristische Existenzweisen lassen sich identifizieren: etwa der mit seiner Halbschwester inzestuös zusammenlebende Industrielle, der sich aus der Gesellschaft zurückgezogen hat, um in seinem Jagdhaus eine philosophische Studie zu verfassen; oder der verkrüppelte junge Musiker Krainer, dessen dissonante Hervorbringungen als absolutes Gegenbild zur romantischen Vorstellung einer musikalischen Weltharmonie erscheinen.

M.M., U.B.