Zum Tode von Ruth Klüger

Ruth Klüger 1931-2020

Zum Tod dieser Frau, einer Holocaustüberlebenden, Literaturwissenschaftlerin, Germanistin und Schriftstellerin sei uns, meiner Frau und mir, gestattet von einem Kontakt samt einer persönlichen Begegnung kurz zu berichten.

Zu Weihnachten 2008 schenkt mir die Tochter meiner Frau, Frau Dr. Julie Demel, das Buch Weiter leben, Eine Jugend.

Die darin vorgebrachte originelle Äußerung zu Thomas Bernhards ‘Tonfall und Sprache’ war der Beginn eines bis 2015 währenden, für mich sehr lohnenden Gedankenaustausches. Als Universitätsprofessorin aus Kalifornien immer einmal in Göttingen ist sie auf Einladung von Herrmann Beil zu Lesungen ans Burgtheater gekommen und hat sie auch in Begleitung von Prof. Hans Höller nach Gmunden und in das Nathaler Haus Thomas Bernhards gefunden. Sie war, wie unsere Vizepräsidentin sagt, eine ‘beeindruckende, mutige und kluge Frau’.

Sie ist uns nicht nur mit ihrem scharfen Intellekt, sondern auch mit ihrem Vertrauen erweckenden Wesen eine Erfahrung wie keine andere gewesen.

Am 27. Oktober 2015 dann ihre letzte kritische Stellungnahme zur bedauernswerten Situation der Germanistik in den USA und zur uns bis heute umtreibenden Frage nach einem Platz für die literarischen Nachlässe Thomas Bernhards und Johannes Freumbichlers.

Anny und P. Fabjan

Offener Brief von Claus Peymann, erschienen auf der Webseite des “Theaters in der Josefstadt”

Berlin, 12. Mai 2020

 

Lieber Herbert Föttinger –sehr geehrter Herr Kollege Direktor!

Wir Theaterverrückten dieser Welt müssen heute, mehr denn je, zusammenhalten und uns gegenseitig Mut machen! Deshalb bin ich Ihnen dankbar, daß Sie unbeirrt an Ihrer Idee festgehalten haben, mich als Regisseur für Thomas Bernhards Dramolette DER DEUTSCHE MITTAGSTISCH an Ihr schönes Haus einzuladen – umso mehr, da diese Inszenierung nun die kommende Saison eröffnen soll, die wahrlich zu einer schicksalhaften werden könnte…Ich freue mich auf die Wieder-Begegnung mit dem großen Thomas Bernhard, die erste Begegnung mit Ihrem Schauspiel-ensemble, den Theaterzauberer Achim Freyer als Bühnenbildner, die Kostümbildnerin Margit Koppendorfer und auf Jutta Ferbers (zuletzt Chefdramaturgin am BE). Bernhards Dramolette mit dem Titel DEUTSCHER MITTAGSTISCH passen in die Zeit wie Qualtingers HERR KARL! Zum Lachen komisch und doch zum Weinen…Die Nazis marschieren wieder auf und haben es in Österreich schon fast auf die Regierungsbank geschafft – nicht anders in meiner Heimat, nicht anders bei unseren Nachbarn. Selbst in Corona-Zeiten schrecken sie nicht davor zurück, zu zündeln und zu schüren… auch das eine Art „Virus“, gegen den die Menschen noch immer nicht immun – und dessen Folgen fürchterlich sind.Unter den sieben Dramoletten ist eines, das als österreichische Erstaufführung gezeigt wird: In „Alles oder nichts“ durchschaut Bernhard, wie skrupellos Politiker Alles oder Nichts tun, um an die Macht zu kommen – oder um jeden Preis dort zu bleiben. (Beispiel: der „Corona-Wettlauf“ um die Nachfolge von Angela Merkel zwischen den Ministerpräsidenten von Bayern und Nordrhein-Westfalen. Beide wollen ja so gerne Kanzler werden!)Und: Können wirklich Gesundheitsbehörden und Kulturfunktionäre vorschreiben, wie wir im Theater probieren und spielen? Oder gar der Kanzler persönlich? Weil er ja so viel Erfahrung hat, aus seinem Theater am Ballhausplatz?Wie sagte kürzlich unser Kollege und Freund Frank Castorf:”Ich möchte mir von Frau Merkel nicht sagen lassen, dass ich mir die Händewaschen muss.”

Schon viel zu lang haben wir erleben müssen, wie die Kultur in den Debatten von Baumärkten, Gartencentern und Quadrat-meterzahlen verdrängt wird. Es wird höchste Zeit, dass wir uns zu unserer Verantwortung bekennen (dürfen). Und wir haben Masken, Ideen, Erfahrung – und Phantasie.Wir müssen wieder gemeinsam mit unseren Zuschauern träumen, weinen, nachdenken, lachen, staunen – und arbeiten dürfen. Deshalb gefällt und imponiert mir Ihre Unerschrockenheit –ja, sie tut gut. Also: Nicht den Mut verlieren! Ich bin an Ihrer Seite!Ohne Kunst, ohne Musik, ohne Theater wird die Welt zur Wüste, wo die Seelen der Menschen verdorren. Die Wochen und Monate ohne Theater kommen mir mit meinen 82 Jahren, wo man dankbar ist für jeden Tag, an dem man morgens gesund aufwacht, wie eine Ewigkeit vor…Unser Kollege, der Intendant der Komischen Oper (und fabelhafte Regisseur), Barrie Kosky hat es erkannt: „Das Theater schläft.” Das heißt aber: es lebt!Jetzt gilt es höllisch aufzupassen, daß aus dem Schlaf kein böser Traum geboren wird. Vielmehr müssen wir das Theater liebevoll, aber leidenschaftlich, wachküssen. Bis bald in Ihrem herrlichen „Theater in der Josefstadt“ –bleiben Sie gesund (und kampfeslustig)!

 

Ihr Claus Peymann

“(In)direkte Rede” von Tarja Roinila †19.05. 2020

Tarja Roinila

(In)direkte Rede
Wie lautet das deutsche Wort doch auf Finnisch? Und ja? Und schon? Warum sind diese Einsilber in Bernhards Text so dicht gesät? Und weshalb wurden in einen einzigen Satz außer den genannten Wörtern noch fünf die Zeit, den Ort oder die Art und Weise angebende Adverbien gepackt? Wäre eine Überarbeitung ange- bracht gewesen; hatte eine Größe wie Thomas Bernhard in den Achtzigerjahren überhaupt noch einen Lektor?
Und warum halte ich, die Übersetzerin des Textes, bei jedem kleinen Wort an, statt über größere Linien nachzudenken, zum Beispiel über Bernhards brillanten Stil oder über seine kunstphilosophischen Aphorismen?
Meine erste Beobachtung war, dass Alte Meister stilistisch an Holzfällen (fi. Hakkuu, 2007) und Der Untergeher (fi. Haaskio, 2009) anschließt. Diese auch als Trilogie charakterisierten drei Werke erschienen in rascher Folge in den Jahren 1983-1985, die Einheitlichkeit des Stils überrascht also nicht. Dennoch habe ich keinerlei Erinnerung daran, dass mir das doch bei der Übersetzung von Holzfällen und Der Untergeher Kopfzerbrechen bereitet hätte.
Auch das lässt mich an meinen Gedankengängen zweifeln. Wieso hätte ich das doch früher nicht bemerkt, wenn es wichtig wäre? Ich erinnere mich, dass ich mich damals auf ganz andere Besonderheiten des Textes konzentriert habe. Sicher lasse ich mich jetzt von etwas Unwesentlichem in die Irre führen, vielleicht ist mein Gefühl für die deutsche Sprache ins Schwanken geraten, meine letzte Reise nach Deutschland liegt schon mehr als ein Jahr zurück. Das doch ist überall und nirgends, es läuft mit, man sollte kein Problem daraus machen.
Übersetzer basteln immer an irgendeiner Kleinigkeit herum. Wenn sie sich darauf verstehen, die Syntax zu analysieren, können sie sagen, sie kämpften mit Appositionen, infiniten Verbformen, Adverbialphrasen oder links vor dem No- men stehenden Attributreihen. Wenn sie derartige Termini nicht verwenden, sa- gen sie vielleicht, wie schade, dass es im Finnischen kein man-Passiv gibt. Der Blick ist ständig auf etwas Kleines gerichtet wie bei einer Kreuzsticharbeit.
Bei mir ist es jetzt das doch. Ich verstehe nicht recht, warum ich mich mit die- sem fast inhaltslosen Hauch aufhalte; er ist Spreu, er ist Abfall in dem kunstvollen Lauf, er unterbricht die inhaltsreiche Kristallisation.
Übersetzen ist weder vergleichende Grammatik noch Neukodierung des Wortschatzes. Sprachen sind nicht kommensurabel, für ein Wort der einen Sprache findet sich eigentlich nie eine exakte Entsprechung in einer anderen Sprache. Lebende Sprache schreibt man

nicht, indem man die Wörter des Ausgangstextes gegen finnische Wörter „austauscht“. Man darf nicht auf einzelne Wörter starren, sondern muss größere Gesamtheiten sehen. Übersetzen bedeutet, neu zu schreiben, den Stil des Werkes zu schaffen.
Ich weiß all das. Dennoch ertappe ich mich dabei, wie ich mir den Kopf dar- über zerbreche, was doch auf Finnisch heißt. Ich blättere wie verrückt in Wörter- büchern. Im deutsch-finnischen Wörterbuch, im deutsch-deutschen Wörterbuch, im aktuellen normativen Wörterbuch der finnischen Sprache. Die Auswahl ist groß: mutta, kuitenkin, silti, sittenkin, kai, kyllä, kylläpäs. Nicht doch! Ich staune geradezu über das Ausmaß an Federfuchserei.
Entweder sehe ich den Wald vor Tannennadeln nicht, oder all das hat irgend- wie mit Alte Meister zu tun. Sittenkin. Doch.

Umgangssprache oder Schriftsprache

Eines Morgens jubiliere ich, als ich – nicht im Wörterbuch, sondern im Radio – darauf stoße, dass es im Finnischen das Wort sinänsä gibt. Es passt hervorragend, es bedeutet eigentlich nichts. Es ist eine Redeweise, ein Mittel zur Rhythmisierung und Hervorhebung, aber von seiner Bedeutung her ein Chamäleon. Ich nehme das Wort in meine Bernhard-Sammlung auf. Sie enthält bereits Listen von fin- nischen Vernichtungsverben und Adjektiven für Widerwärtiges – wer Bernhard auch nur ansatzweise kennt, wird verstehen, warum.
Sinänsä ist kein völlig leeres Wort. Es hat eine präzise, im Wörterbuch definier- te Bedeutung, allerdings vor allem in der Hoch- oder Schriftsprache. Und Bücher sind ja Schriftsprache, mündliche Rede ist gesprochene Sprache – nicht wahr? Ganz so einfach ist die Sache nicht.
Einerseits gibt es in Büchern Personen: Sie unterhalten sich, führen Monologe oder geben der Erzählung eine Perspektive, die sich auf die Sprache des Erzählers auswirkt. Andererseits ist die „gesprochene Sprache“ der Romane keine Trans- literation eines im vollbesetzten Bus aufgenommenen Gesprächs, sondern eine künstliche Konstruktion, die den Eindruck echten Sprechens auf Papier erzeugt.
Die Beziehung zwischen gesprochener Sprache und Schriftsprache, mit ande- ren Worten das Register des Werks, zählt zu den wichtigsten Fragen, die bei jeder Übersetzung aufs Neue gelöst werden müssen. Bernhards Sprache ist mündliche Rede, aber keine gesprochene Sprache – so hatte ich das Register von Holzfällen und Der Untergeher analysiert. Es handelt sich um redundante Redefluten; den- noch mutet die Ausdrucksweise der Hauptperson durch geschliffene Wendungen, Fremdwörter und komplizierte Satzgefüge schriftsprachlich an.
Bei diesen beiden Büchern war mir vollkommen klar, dass in der finnischen Übersetzung keine umgangssprachlichen Ausdrücke wie fiksata oder satsata ste- hen würden. Bei Alte Meister zog ich jedoch beide in Erwägung und fragte mich,

woher dieser Impuls eigentlich kam. Er war instinktiv und wurde nicht durch ein- zelne Wörter ausgelöst. Irgendwie entstand er aus der Art des Sprachgebrauchs in diesem Werk – es fällt mir schwer, das hier weiter zu präzisieren. Mit der Rede hat es jedoch zu tun, und dadurch auch mit meiner doch-Obsession.
Der Impuls war auch deshalb verwirrend, weil für Bernhard neben der „schrift- sprachlichen Rede“ eine starke Distanzierung der echten Rede typisch ist. Die sprechende Hauptfigur ist in eine vielschichtige Zitatkonstruktion eingebettet, die bisweilen sogar komisch wirkt. Der Protagonist selbst ist nicht der Erzähler, son- dern seine Rede wird von einer anderen Person zitiert oder referiert („sagte er“), und dieses Zitat wiederum stammt nicht selten aus dem Mund oder der Feder einer dritten Person („schreibt Atzbacher“).
Das Zögern und Stammeln, die überflüssigen, leeren Worte in Alte Meister überraschten mich. Bernhards Text zeichnet sich durch einen schnellen Rhythmus aus; der Stänkerer geifert. Da der Text auch im Finnischen strömen sollte, fragte ich mich, ob diese Füllsel – doch, ja, schon – nicht unnötige Bremsklötze sind.
Ich formuliere jetzt eine Hypothese. Ich vermute, dass Alte Meister sich inso- fern von den vorherigen Romanen des Autors unterscheidet, als das Zaudern des Sprechers, seine Aussetzer und seine menschliche Unvollkommenheit in diesem Buch deutlicher zu sehen – oder eher zu hören – sind. Dieses Gefühl habe ich, auch wenn ich es anhand des Textes nicht eindeutig belegen kann. Möglich ist auch, dass meine Ohren sich erst bei der dritten Bernhard-Übersetzung für das Schwatzen und Lärmen des Textes geöffnet haben.
Ich weiß nicht, wie oft das Wort sinänsä in meiner Übersetzung vorkommt, doch seine Entdeckung war eine wichtige Etappe. Vielleicht deshalb, weil ich das Wort nicht im Wörterbuch fand, nicht direkt über das Wort doch, nicht direkt auf der Mikroebene des Ausgangstextes. Ich habe es nicht gefunden, indem ich auf ein Wort oder einen Satz starrte, sondern weil ich etwas von dem begriff, was Alte Meister als Ganzes ausdrückt.

Stänkermusik

Thomas Bernhard ist ein moderner Klassiker, weil er mit Worten Musik schafft. Aus eben diesem Grund empfinden viele Leser seine Texte als harmonisch, so- gar als heilsam – obwohl bis zur Erschöpfung Menschen heruntergeputzt und die schlimmen Zustände bejammert werden.
Ich bezeichne Bernhards Prosa als Stänkermusik. Dieses Wort ist ein Oxymo- ron, also eine gedankliche Unmöglichkeit, ein in sich widersprüchlicher Begriff. Die Musik gilt ja als höchste der Künste, sie schafft ihre eigene Welt, die von der Alltagsrealität nicht beschmutzt wird. Wie kann man durch Schimpfen Musik er- schaffen? Das ist eine beachtliche Leistung.

Wäre Thomas Bernhard eine rhetorische Figur, dann wäre er ein Oxymoron. Es ist Bernhards Mysterium, wie ein äußerlich wütender Text so schön klingen, wie ein zor- niger Sermon sich in Musik verwandeln kann. Heimtückisch entfaltet der Text eine Wirkung, die seinem augenscheinlichen Inhalt nahezu diametral entgegengesetzt ist. Bei der Lektüre von Bernhards Texten habe ich immer auf die Form, den Rhythmus und den Klang der Wörter geachtet. Vielleicht betont diese Lesart die Selbstgenügsamkeit des Textes. Ich habe Bernhard vor allem als Modernisten gele-
sen, der eine stilreine Konstruktion, eine vollkommene sprachliche Welt schafft. Vielleicht ist eine solche Lesart allzu hygienisch, kommt mir plötzlich in den
Sinn, als ich den Erguss über die Unsauberkeit der Toiletten in Wien übersetze.
In Alte Meister traf ich immer wieder auf Unebenheiten und Krempel, die ich gerne übersprungen hätte. Bei fortschreitender Arbeit wurde mir jedoch klar, dass ich den scheinbaren Ballast doch nicht wegwischen wollte: Reger ist nicht rund- herum sauber und aalglatt, fließend und gleitend. Manchmal bricht sein Gedanke ab, sein Satz wird durch eine unwesentliche Nebenbemerkung unterbrochen, er gerät auf logische Irrwege.
Obwohl Regers Sprechen schnell dahinfließt, weist seine Souveränität Brüche auf. Zwischen Hass und Schmähung schimmert Unsicherheit, sogar Hilflosigkeit. Je deutlicher Regers Trauer thematisiert wird, desto verständlicher wird dies. Doch der Leser spürt es zunächst nur und versteht erst später.
Das Verständnis wird auch durch die Labilität erschwert, die dem Text eigen ist. Der Tonfall schwingt oft von einem Extrem zum anderen, aber es ist schwierig, exakt zu bestimmen, wo und wie der Perspektivwechsel stattfindet. Der Text ist in ständiger Bewegung, er läuft schneller als der Verstand. Ein langes Satzgefüge bleibt nicht vom Anfang bis zum Ende unter Kontrolle, sondern die Sätze krachen wie Packeis aufeinander.
Auch die Arbeitsteilung zwischen Schriftsprache, gesprochener Sprache und Musik ist in diesem Buch schwieriger zu definieren als in Holzfällen und Der Unter- geher; auch sie schwankt. Die Redehaftigkeit beschränkt sich nicht auf die Wahl zwi- schen dem mündlichen und dem schriftsprachlichen Register, sondern liegt tiefer.
Das Sprechen ist eine Art Unterströmung oder Erdung, die an die mündliche Überlieferung und an Körperlichkeit denken lässt. Das Sprechen ist vor der Schrift; die Schrift ahmt das Sprechen nach. Wenn wir ein Buch lesen, hören wir die Wor- te, auch wenn unsere Lippen sich nicht bewegen. Der kompliziert aufgebaute, mä- andernde Strom des Textes schafft die Verbindung zum spontanen Ursprung allen Schreibens – oder erinnert an eine Verbindung, die nie abgebrochen ist.
Die mündliche Rede ist die schöpferische Urkraft der Sprache. Sie ist das Mittel der Sprache, unmittelbar aus dem Körper hervorzuquellen.
Im Vergleich zu seinen Vorgängern verschiebt Alte Meister den Schwerpunkt vom Musikalischen auf die mündliche Rede. In der Musik ist es möglich, an der

Idee eines sich selbst genügenden und „geschlossenen“ Kunstwerks festzuhalten; die Musik kann über das Leben erhoben werden. Die mündliche Rede dagegen tost und schnauft, sie ist unvollkommen und unkontrollierbar, so ähnlich wie das Leben.
Die mündliche Rede öffnet einen direkten Zugang zur Hauptperson und macht Alte Meister vielleicht auf andere Weise berührend als Holzfällen und Der Unter- geher. Alle drei Bücher thematisieren das Verhältnis zwischen Leben und Kunst, sowohl auf der Ereignisebene als auch in den Sentenzen der Protagonisten.

Kaninchen oder Ente

Der österreichische Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler, Her- ausgeber der Gesammelten Werke von Thomas Bernhard, spricht im Zusammen-
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hang mit Alte Meister vom Muster der Umspringbilder. Dabei handelt es sich um
so genannte Gestalt-switch-Bilder, in denen Figur und Hintergrund den Platz tauschen oder die Figur sich verändert, wenn man den Blick anders einstellt: Statt eines Kaninchens sieht man auf dem Bild eine Ente, statt einer Greisin eine junge Frau.
In Bernhards Text sind die Figuren und die Hintergründe – abwechselnd – das Niedrige und das Erhabene, Tragödie und Komödie, Schelten und Trauer, Ge- schwafel und Unsicherheit, Alltäglichkeit und Pathos, Unbeholfenheit und Ele- ganz, Persönliches und Unpersönlichkeit. Reger zum Beispiel verwendet für sich selbst verschiedene Passivformen, er spricht vom „Menschen“, von „uns“ oder
„euch“, auch wenn es um seine ureigene Trauer geht. Und gerade wenn er am lautesten schwafelt, rutscht die Rede ab, berührt etwas Empfindliches und Persön- liches, enthüllt eine Schwäche.
Um auf mein Lieblingswort doch zurückzukommen: Es ist ebenfalls ein Sym- ptom für Bedürftigkeit. Das kleine Wort vergewissert sich der Verbindung zum Hörer, es sagt: Ist es nicht so, so ist es doch, nicht wahr? Ist doch schön! Schön, nicht wahr? Doch zeugt von der Notwendigkeit eines wohlwollenden Zuhörers – die Reger auch eingesteht, als er von Irrsigler spricht.
Wenn das doch ein Appell an den Hörer ist, ein Mittel, sich seiner Anwesenheit zu vergewissern, bringt es die Hauptperson aus den Tiefen der Zitatschichten nä- her an den Leser heran. Reger ist ein Mensch, seine Stimme ist zu hören. Gleich- zeitig erhält der Leser einen Platz im Text; „wir brauchen Zuhörer“, sagt Reger. Jeder von uns darf Irrsigler sein.
Diese „Interaktivität“ wird nicht durch ein einziges kleines Wort aufgebaut. Aber das doch wirkte wie ein Schönheitsfleck, ein Blickfang, durch den ich der ureigenen Ästhetik der Alten Meister auf die Spur kam.
Vielleicht ist das kleine Wort ein guter Einfallswinkel, weil es für sich allein nichts ist: Der Blick richtet sich darauf, zugleich darüber hinaus auf den Kontext,

der es umgibt und aus dem es seine Bedeutung bezieht. Die Übersetzerin tastet sich in dem Buch voran wie in einer fremden Sprache, Wort für Wort, sie muss lange zuhören, bevor es ihr gelingt, richtige, lebende Sprache zu produzieren.

Kunstvernichtungskunst

Mit der Kunst ist bei Bernhard unausweichlich Misslingen verbunden. Die Ti- telgestalt in Der Untergeher, der Pianist Wertheimer, scheitert als Künstler, weil Glenn Goulds Virtuosität ihn niederschmettert. Die Kunst und der mit ihr einher- gehende Anspruch auf Perfektion zerstören Wertheimer.
In Alte Meister stürzt dagegen die Kunst selbst von ihrem Podest: Sie erweist sich als unvollkommen. Reger zufolge ist in jedem Kunstwerk ein gravierender Fehler zu finden. Wenn man ein Werk genau betrachtet, wird es zu einer Karikatur seiner selbst, und die Kunst wird vernichtet.
Die letztliche Nichtigkeit der Kunst – vanitas – wird jedoch nicht mit einem Achselzucken abgetan. Bernhard nimmt die Kunst ernst. Die aphoristischen Passagen sind gewichtig und tiefschürfend, und auch Alte Meister nimmt – mal direkt, mal andeutungsweise – Stellung zum Werk zahlreicher Philosophen von Schopenhauer bis Heidegger.
Bernhard bringt eine aphoristisch geformte These vor und zerstört sie im sel- ben Moment. Wieder wechseln sich Ernst und Komik, Banalität und Tiefsinn ab, schließen sich jedoch nicht aus. Das Nebeneinander wirkt auf allen Ebenen des Textes, Bernhard verbindet das Hohe und das Niedrige sowohl im Sprachgebrauch als auch in der Aussage des Werkes.
Dies ist das Bernhardsche Paradox, dem die Energie des Textes seltsamerwei- se entspringt. Alte Meister ist – wie Schmidt-Dengler schreibt – Kunstvernich- tungskunst, und gleichzeitig affirmiert dieses Buch das Leben vielleicht stärker als irgendein anderes Werk von Bernhard.
Regers Kunstvernichtungstirade hat ein zweifaches Ergebnis. Zum einen schei- tert die Kunst aus der Sicht des Kritikers: Im Verhältnis zur Welt und zur Wirk- lichkeit ist die Kunst immer mangelhaft. „Was ist Rembrandts gemaltes Gesicht seiner Mutter, gegen das tatsächliche Gesicht meiner eigenen?“
Vor allem aber scheitert und schrumpft die Kunst in den Augen des Menschen in dem Moment, in dem er sie am dringendsten braucht. „Immer habe ich ge- glaubt, die Musik ist es, die mir alles bedeutet, manchmal ja auch, die Philosophie ist es, die hohe und die höchste und die allerhöchste Schriftstellerei, wie über- haupt, dass es ganz einfach die Kunst ist, aber alles das, die ganze Kunst, wie auch immer, ist nichts gegen diesen einen einzigen geliebten Menschen.“
Die größte Volte wird geschlagen, als das Scheitern der Kunst zur Rettung wird: Reger wird mithilfe der Kunst für das Leben gerettet. Die Kunst entledigt

sich ihrer Bedeutung, um sichtbar zu machen, wie wertlos sie im Vergleich zu einem anderen Menschen ist. Die Bedeutungslosigkeit der Kunst ist Teil desselben Musters wie die unersetzliche Bedeutung eines geliebten Menschen.

Komödie

In der Straßenbahn, am frühen Abend. Ich setze mich auf einen Fensterplatz hin- ten im Wagen, bevor mir klar wird, dass ich in der Patsche stecke. Ein ziemlich verwahrloster Typ lässt sich auf den Nebensitz fallen und fängt an zu labern. Er redet und redet, alles ist falsch, der Regenmantel undicht und das Sozialamt rückt kein Geld raus und die Regierung ist beschissen.
Und das ist erst der Anfang. Ich sitze zwischen dem Kerl und dem Fenster in der Falle und ahne, dass die Wende im Text jederzeit eintreten kann. Bald wird der ganze Lebensschmerz hervorquellen, ein großer Verlust, der Tod. Was mache ich dann? Was ist das hier, eine Farce oder eine komplette Tragödie?
Dennoch würde mir nicht im Traum einfallen, über diese Episode einen Ro- man zu schreiben. Das wäre doch eine katastrophale Idee: zweihundert Seiten Geschwätz eines alten Mannes, ohne Absatz. Keine Handlung, keine Ereignisse, kaum Platz für die Gedanken oder Äußerungen Anderer.
Auch in diesem Roman von Bernhard gibt es nur ein einziges Ereignis, den Tod eines geliebten Menschen. Die Tragödie kommt nach und nach ans Licht, wenn man die Geduld aufbringt, Reger zuzuhören. Je mehr man ihm zuhört, de- sto näher kommt er einem; die selbstgenügsame Oberfläche des Textes wird brü- chig, zwischen dem Nörgeln kommt ein berührendes menschliches Schicksal zum Vorschein. Auf irgendeine verquere Art wird Reger wirklich, er wird ein Mensch. Bernhard hat seinem Buch den Untertitel Komödie gegeben. Charakteristisch für Komödien sind Leichtigkeit, Humor und ein glückliches Ende. Der Zuschau- er gelangt nicht durch Identifikation zur Katharsis, sondern nimmt eher Anteil an den Schwächen der Hauptfigur oder lacht über sie. Die Protagonisten sterben nicht durch unabwendbare Schicksalsschläge wie in der Tragödie, sondern bleiben
am Leben, vertreten eine Perspektive der Hoffnung und der Zukunft.
Die Komödiantik ist in Alte Meister der unentbehrliche Partner der Tragödie; die komische Perspektive ist stets ebenso möglich wie die tragische. Daraus ent- steht die Dynamik des Werks. Schau so, jetzt siehst du eine Ente, und nun schau so, dann siehst du ein Kaninchen.
Auch Leben und Kunst dienen sich gegenseitig als Muster und Hintergrund. Dass Reger für das Leben gerettet wird, ist die größtmögliche Leistung der Kunst – jener Kunst, deren Mangelhaftigkeit er andererseits lauthals verkündet. Die größte Tat der Kunst: vom Leben verdrängt zu werden.

Auf der Suche nach der Gegenwart

Es ist nahezu peinlich, in einem Literaturessay vom „Leben im Allgemeinen“ zu sprechen. Und wenn nicht peinlich, dann zumindest schwierig. Man steht vor ei- nem Sumpf der Unbestimmtheit. Was heißt denn Leben? Ein großes Wort, das alles und nichts bedeutet. Gewichtige Worte über „das Leben“ sind meist ein An- zeichen für eine verborgene ideologische Agenda oder für verworrenes Denken.
Der lebende Moment, gerade dieser, der bereits vergangen ist, bevor ich das Wort ausgesprochen habe, dieser dieser dieser – wie bekommt man diesen in den Griff, wie erreicht man mit der Sprache die echte Erfahrung und Konkretheit, die sich sofort in etwas anderes verwandelt, wenn man über sie zu sprechen beginnt? Wird sie zur Erinnerung oder Zusammenfassung, dann wird sie zugleich ab- strakt. Das, was wir konkret erleben, kennen wir nur in der Vergangenheitsform
– und dann ist es kein Leben mehr.
Milan Kundera analysiert in einem Essay den knappen Dialog in einer Kurz-
geschichte von Hemingway, der gerade wegen seiner Alltäglichkeit, seines sche- matischen Charakters äußerst realistisch wirkt. Einen ähnlichen Dialog könnte man im wirklichen Leben am Nebentisch im Café hören. Die Wahrheitstreue liegt in der „akustischen Oberfläche“ der Situation, wie Kundera sagt, nicht darin, dass die Äußerungen der Person durch ihre Geschichte oder ihre Psychologie erklärt würden. Die „melodische Wahrheit eines Augenblicks“ – schön gesagt! – gehorcht nicht den Gesetzen der Erzählung.
Denn eine Erzählung ist immer Vergangenheitsform: Zusammenfassung, Er- klärung und Deutung. Die Erzählung muss, ebenso wie das Drama, auf „künst- liche Weise“ dicht und konzentriert sein: Jedes Element erfüllt eine bestimmte Aufgabe. Unwesentliches und Alltägliches ist weggeräumt. Eine Waffe, die im er- sten Akt kurz zu sehen ist, muss im letzten verwendet werden, so wird das strenge Gesetz des Dramas erfüllt.
Flaubert führte den Roman näher an das wahre Leben heran, indem er allerlei Plunder einfügte. Als Emma Bovary sich in einer Kirche mit Léon trifft, taucht ein Kirchendiener auf, der mit seinem Geschwätz ihre Liebesszene stört. Oder in einem Zimmer gibt es eine Standuhr, die mit der Geschichte nichts zu tun hat.
Kundera hält Flauberts Entdeckung für umwälzend, denn sie gab dem Roman die Struktur des gegenwärtigen Moments, zu dem die „fortwährende Koexistenz des Banalen und des Dramatischen“ gehört. Seit Flaubert ist die Romankunst im- mer stärker bestrebt, den flüchtigen, konkreten Moment einzufangen. Dieses Be- streben kulminiert Kundera zufolge im Ulysses (1922) von James Joyce.
Ein neuerer Markstein auf diesem Weg ist Thomas Bernhards Alte Meister, sein letzter Roman (zwar erschien Auslöschung ein Jahr später, war aber früher geschrieben).

Karikierend könnte man sagen, dass Bernhard den Smalltalk in die moderne Literatur einführte. Die „doch-Ästhetik“ ist ja in gewisser Weise genau das: Rede, die nichts Inhaltliches zu vermitteln hat, sondern dem Wunsch entspringt, das Gespräch fortzusetzen und sich der Anwesenheit des Anderen zu vergewissern. Smalltalk ist weder Information noch Dichtung, sondern ein Versuch, die Bin- dung zwischen den Sprechenden zu bestätigen. Dies gelingt Reger. Er braucht ei- nen Zuhörer, und er bekommt ihn.
Der gegenwärtige Moment ist das Unerreichbarste und Vergänglichste. Er hat jedoch seine eigene Wahrheit, der das Schreiben nachstreben kann. Es ist Bern- hards große Entdeckung als Romanautor, dass die Rede zum strukturellen Kern des Romans wird. Es geht nicht um die Einbeziehung der mündlichen Rede in die Schrift, auch wenn technisch gesehen dergleichen geschehen kann. Es geht um die Seinsweise des Romans: Das Ereignis des Sagens, das der Leser hört, ist der gegen- wärtige Moment des Textes. Der Leser meint, ihn mitzuerleben, der Text scheint zu entstehen, während er gesagt wird.
Der Roman wird zur direkten Rede. Obwohl die Direktheit indirekt, listig er- zielt wird. Um einen realzeitlichen Eindruck zu schaffen, braucht es eine kom- plizierte Konstruktion, die Distanzierung der Hauptperson durch Zitatschichten, einen Stil, der den Text nahezu in Gedankenschnelle fließen lässt.
Ein Paradox ist auch, dass diese Rede natürlich Schrift ist, was die „Anfüh- rungszeichen“, mit denen Regers Redeschwall behängt wird, betonen: Anfangs er- innert der Text einmal und am Ende viermal daran, dass alles, was wir hören und gehört haben, von Atzbacher geschrieben wurde.
So kunstvoll ist Bernhards Trick, dass ich als Leserin all das vergaß. Späte- stens, als Reger zu weinen begann, kam er mir ganz nah, und es fiel mir leicht, zu vergessen, dass ich einen Roman las. Ebenso leicht konnte ich seinem Gedanken zustimmen, dass die Kunst, selbst die allerbeste Literatur, im Vergleich zu einem geliebten Menschen nichts bedeutet.
Ich begann mit dem doch, das im Text überflüssig zu sein schien. Allmählich erkannte ich, dass es an mich gerichtete Rede war, die Bitte, zu hören und dazu- bleiben. Das kleine Füllsel im Text machte Reger zu einem lebenden Menschen, mit dem ich schließlich weinte.

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

1 Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Litera- tur 1945 bis 1990. Residenz Verlag, 1995.
2 Milan Kundera, „Auf der Suche nach der verlorenen Gegenwart“, in: Verrate- ne Vermächtnisse. Aus dem Französischen von Susanna Roth. Carl Hanser Verlag, 1994.

Zum Tod von Raimund Fellinger.

Zum Tod von Raimund Fellinger.

 

Unser Präsident ist gestorben. Unerbittlich gegen sich selbst, ist er diesen langen, schweren Weg durch seine Krankheit gegangen, immer begleitet und unterstützt von seiner Frau Stephanie Tyszak.  

 

Mit Umsicht, Kompetenz und großer Energie hat Raimund Fellinger die Internationale Thomas Bernhard Gesellschaft aufgebaut und geformt. Sein großes Ziel war die internationale, lebendige Wahrnehmung des Werkes von Thomas Bernhard. Dafür hat er bis zuletzt gearbeitet und gekämpft. Er war dabei auch ein streitbarer, mit einem durchaus dramatischen Talent gesegneter, leidenschaftlicher Präsident. Er ging selten Konflikten aus dem Weg, wenn er der Meinung war, dem Dichter Thomas Bernhard wird Unrecht getan und mit Inkompetenz begegnet. Er wollte mit seinem großen Wissen und Gespür im besten Sinne ein Hüter und Bewahrer für die Literatur sein, unermüdlich und mit ganzem Einsatz.

 

Sein Tod ist ein großer Verlust für uns alle, für die Gesellschaft, für den Verlag und vor allem für die Literatur.

 

Christiane Schneider

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