Korrektur (1975)
In Korrektur wird eine Episode aus dem Leben Ludwig Wittgensteins weiterphantasiert: Der österreichische Philosoph baute in den zwanziger Jahren für seine Schwester in Wien ein radikal geometrisiertes Wohnhaus. Auch bei Bernhard errichtet ein Sohn aus wohlhabender Familie, der sich intensiv mit Architektur, Philosophie und Wissenschaft (Genetik bzw. „Erbänderungen“) beschäftigt und in Cambridge lehrt, mit dem Erlös aus dem Verkauf des Familienbesitzes Altensam ein Wohngebäude für seine Schwester, in diesem Fall einen Kegel „in der Mitte des Kobernaußerwaldes“. Roithamer stellt seinen Kegel zwar fertig, doch kurz darauf stirbt die Schwester, worauf sich der Konstrukteur des zwecklos gewordenen Bauwerks das Leben nimmt.
Wie häufig in Bernhards Werk ist der Text Rückschau auf ein vergangenes Geschehen, ein Nachlass: Die Umstände des Kegelbaus und die Zeit danach hat Roithamer auf zahllosen Manuskriptblättern beschrieben und immer wieder korrigiert. Nach Roithamers Tod versucht ein mit ihm von frühester Jugend an aufs Engste verbundener Freund, die drei entstandenen Fassungen zu sichten und zu ordnen. Dessen Bericht über die Annäherung an Roithamers Nachlass macht den ersten Abschnitt des zweiteiligen Romans aus. Dann folgt die Wiedergabe der aufgefundenen Schriften.
Roithamer hat sich in seinem Herkunftsort Altensam, der zugleich das gesamte auf ihm lastende geschichtliche Erbe verkörpert, stets nur als „Fremdkörper“ empfunden. Vor allem seine Mutter charakterisiert er als Verkörperung alles Feindlichen. So wird für ihn die Ablösung vom Einflussbereich der Familie zur Lebensaufgabe, symbolisiert durch den Bau des Kegels, der als Inbegriff von Individualität („das Eigenartigste“) ausgewiesen ist. Das Vorhaben, sich seiner Herkunft zu entledigen, ist ein zentrales, fast in jedem Prosa-Text wiederkehrendes Motiv Bernhards.
Gleichzeitig soll der Kegel aber Roithamers Schwester, die einzige Person aus Altensam, von der er sich wirklich geliebt und verstanden fühlt, „vollkommen glücklich“ machen. Als sie stirbt, erklärt der Bruder sein Bauvorhaben für ihren Tod verantwortlich und deutet ihn zur eigentlichen Vollendung des Projekts um. Immer wieder versucht er, seine Studie über Altensam, die der Wirklichkeit in seinen Augen nicht gerecht wird, zu korrigieren, bis sie ihm gänzlich vernichtet erscheint; zuletzt vollzieht er im Freitod die „eigentliche wesentliche Korrektur“ seines Lebens.
M.M.