Der Untergeher (1983)
Auslöser der Gedanken und Erinnerungen, die der Roman wiedergibt, ist der Selbstmord des Pianisten Wertheimer, eines Freundes des Ich-Erzählers. Der geistigen Annäherung entspricht die äußerliche Bewegung des Erzählers, der zunächst ins Gasthaus von Wankham eintritt, dort (im Zentrum des Buches) mit der Wirtin spricht und sich dann in Wertheimers Jagdhaus in Traich von dem Holzknecht Franz über die letzte Lebenszeit des Verstorbenen informieren lässt.
28 Jahre zuvor wurden Wertheimer und der Erzähler während eines Kurses bei Horowitz in Salzburg mit der übermächtigen Spielkunst von Glenn Gould konfrontiert. Beide gaben daraufhin ihre Laufbahn auf (der Erzähler sofort, Wertheimer erst später) und widmeten sich der Schriftstellerei: Wertheimer wurde zum Geisteswissenschaftler, der Erzähler zum „Weltanschauungskünstler“, der seit Jahren an einer Studie über Glenn Gould arbeitet.
Der Erzähler vermutet als möglichen Grund für den Selbstmord des Freundes Wertheimer – neben der Ausweglosigkeit, in die sich dieser als Pianist hineingespielt habe, und neben Glenns Tod – vor allem auch den Weggang seiner geliebten Schwester, die einen Schweizer Großindustriellen geheiratet hat – genau vor ihrem Wohnhaus hat sich Wertheimer nämlich aufgehängt. „Lange vorausberechneter Selbstmord, dachte ich, kein spontaner Akt von Verzweiflung“, steht schon im Motto des Romans.
Der erste Roman der „Künstler- oder Künste-Trilogie“, dem Holzfällen und Alte Meister folgen, stellt, wie die beiden anderen Texte, ein Memento Mori in den Mittelpunkt. In allen drei Texten geht es um die verheerende Rolle der Kunst, wie durch den absoluten Willen zur Perfektion die wichtigen Dinge des Lebens aus den Augen verloren werden und wie sich das Leben bzw. der Tod letztlich stärker als die Kunst erweisen. Der „verlogenen“ Welt der Kunst wird jeweils der Verlust eines „lebenswichtigen Menschen“ gegenüber gestellt, was zur tiefgreifenden Relativierung einer vom Erzähler selbst einmal geteilten Gedankenwelt führt.
Im Zentrum der Reflexionen steht in Der Untergeher jedoch der ausführliche Vergleich des Ich-Erzählers mit Wertheimer, der zur Konfrontation zweier unterschiedlicher Lebensmodelle bei gleich gelagerter Ausgangsposition wird. Für den Erzähler verkörperte sein Freund all jene Ursachen für existenzielles Scheitern, die er selbst habe vermeiden können; vor allem habe er sich nicht (wie Wertheimer) von dem Perfektionsanspruch, den Glenn Gould zu erfüllen schien, vernichten lassen. Glenn Gould erscheint bei Bernhard als Inkarnation von Eigenschaften, von denen auch viele seiner anderen Protagonisten unablässig reden: Präzisionsstreben und Selbstdisziplin, Isolationsdrang und Ordnungsfanatismus, aber auch Naturhass und die ambivalente Sehnsucht nach dem Aufgehen in der Welt der Kunst.
M.M., U.B.