Das Kalkwerk (1970)
Ausgerechnet in der Weihnachtsnacht erschießt der Privatgelehrte Konrad seine verkrüppelte, seit vielen Jahren an den Rollstuhl gefesselte Frau (zugleich seine Halbschwester). Zuvor hat er in einem stillgelegten Kalkwerk, wohin er sich mit ihr in die absolute Einsamkeit zurückgezogen hatte, über zwanzig Jahre vergeblich an einer Studie über das Gehör gearbeitet. Konrad hat seine Frau ausdrücklich wegen ihrer Verkrüppelung und Hilfsbedürftigkeit geheiratet; jahrelang diente sie ihm als Objekt für seine wissenschaftlichen Experimente.
Der Roman hat die auch für andere Texte Bernhards charakteristische Ausgangssituation, dass sich jemand nach einem irritierenden Erlebnis der „Ursachenforschung“ widmet, ohne jedoch eine wirklich befriedigende Erklärung zu finden. Ein als Person völlig im Hintergrund bleibender Lebensversicherungsvertreter unternimmt mithilfe der Befragung von Bekannten des Mörders (Wieser und Fro) den Versuch, nicht nur den Mord, sondern auch die Gründe für die fatale Schreibhemmung Konrads zu rekonstruieren.
Weder die Arbeit an der Studie, deren Fertigstellung für Konrad die Verwirklichung seines Lebenszwecks bedeuten würde, noch der Versuch, neben dem eigenen auch das Hören seiner Frau zu vervollkommnen, sind erfolgreich. Vielmehr führt ihm der körperliche Verfall der Kranken erst recht die Hinfälligkeit der menschlichen Natur vor Augen. Vor allem aber leitet er daraus ab, dass es „auf der ganzen Welt keinen einem andern entsprechenden Menschen gebe“. So beschuldigt er auf der Suche nach Gründen für sein Scheitern neben seiner unglücklichen Kindheit, seinen Krankheiten bzw. den Lebensbedingungen im Kalkwerk schließlich auch seine Frau. Im Traum sieht er, wie sie die endlich fertig gestellte Studie ins Feuer wirft. Mit seiner Verzweiflungstat vernichtet Konrad jedoch auch seine eigene fehlgegangene Existenz.
Das Kalkwerk ist Paradebeispiel für jene schrecklichen Idyllen im Werk Bernhards, die sich viele seiner Helden vorsätzlich schaffen, ohne mit den Konsequenzen, die sich aus ihrer reduzierten Existenzweise ergeben, fertig zu werden. Diese Denk-Kerker sind die Materialisation von narzisstischer Egozentrik, mystisch-paradoxer Wahrheitssuche und manischer Konzentration auf ein wissenschaftlich-philosophisches Projekt.
M.M., U.B.