Auslöschung. Ein Zerfall (1986)
Franz-Josef Murau, der Protagonist des weitgehend schon 1981/82 entstandenen längsten Prosatexts des Autors, ist durch einen Autounfall, bei dem seine Eltern und sein Bruder ums Leben gekommen sind, zum Erben seines feudalen Familiensitzes Wolfsegg geworden. Seit Jahren lebt er als Privatlehrer für deutsche Literatur in Rom; die meisten seiner Reflexionen vollziehen sich im Gespräch mit seinem Lieblingsschüler Gambetti, in dem er einen idealen Partner gefunden hat. Murau plant eine Schrift über seinen „Herkunftskomplex“, in der alles, was er aufschreibe, ausgelöscht werde. Auslöschung endet mit der Ankündigung des inzwischen selbst bereits verstorbenen Murau, den ererbten Familiensitz der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien zu vermachen.
Der Roman hat zwei Teile: Unter dem Titel Das Telegramm vollzieht sich zunächst im Anschluss an die Todesnachricht mit Hilfe einzelner Fotografien eine phantasierend-reflektierende Auseinandersetzung Muraus mit seiner Familie, begleitet von wiederkehrenden Überlegungen zu den Auswirkungen der fotografischen Kunst als Medium der „Naturverfälschung“, was ihm gleichwohl die Verzerrung der darauf festgehaltenen Familienmitglieder erleichtert. Im zweiten Abschnitt Das Testament folgt die konkrete räumliche Annäherung an Wolfsegg sowie zuletzt die Schilderung der Begräbniszeremonie. Als zentraler Bildbereich fungiert dabei die Welt des Theaters. Murau charakterisiert auf diese Weise die Funktionsweise katholischer Riten, aber auch seine eigene Unfähigkeit zur ungezwungenen Selbstpräsentation, von der seine Wiederbegegnung mit den Menschen auf Wolfsegg beeinträchtigt ist.
Unter dem Namen „Wolfsegg“ versteht Murau nicht nur das reale Gebäude, sondern auch die gesamte Last ererbter Traditionen, die er in Österreich von den beiden autoritären Ideologien des Katholizismus und des Nationalsozialismus geprägt sieht. Muraus Familie, der er den Vorwurf der opportunistischen Anpassung an die NS-Herrschaft macht, verkörpert dabei das Weiterwirken der nationalsozialistischen Mentalität; an ihrem Begräbnis werden neben katholischen und weltlichen Honoratioren auch die einstigen Gauleiter und SS-Obersturmbannführer teilnehmen. Stellvertretend für die verdrängten Verbrechen der NS-Zeit steht die Geschichte des Bergmanns Schermaier, der wegen des Abhörens von Feindsendern angezeigt und nach dem Krieg nie entschädigt worden ist.
Muraus Elternhaus ist aber auch Schauplatz einer der vielen Kindheitshöllen in Bernhards Werk. Wieder einmal wird eine Mutter als das personifizierte Böse zum Beispiel für die Überwältigung des Männlichen durch das zerstörerische Weibliche. Die Schwäche des Vaters wird jedoch diesmal auch mit der universalen Herrschaft der Bürokratie (der „Leitzordner“) in Verbindung gebracht. Während Murau seine Schwestern als boshafte Marionetten ihrer Mutter denunziert, beschreibt er seinen Bruder im Unterschied zu sich selbst als unfähig, sich aus dem Einflussbereich seiner Familie zu befreien.
Wie den Vater ordnet er ihn der Menschengruppe der Jäger zu, den „Herrenmenschen“, während er selbst stets den Kontakt zu den Gärtnern bevorzugt habe. Gegenfiguren zu diesem fatalen Familienzusammenhang sind Muraus Onkel Georg, der sich wie er in den mediterranen Süden abgesetzt und dort eine verlorengegangene „Antiautobiografie“ geschrieben hat, der Kirchenfürst Spadolini, ein Meister glanzvoller Selbstdarstellung und zugleich als Geliebter der Mutter eine Art ambivalenter Ersatzvater des Protagonisten, sowie die Dichterin Maria, die deutlich als Hommage an die Autorin Ingeborg Bachmann angelegt ist.
M.M., U.B.