Anna Bernhard, Thomas Bernhards Großmutter mütterlicherseits, hat sich ein ganz besonderes Leben ausgesucht. Sie verlässt 1904 ihren Mann, einen braven Salzburger Bürger und ihre beiden Buben, um sich einem träumerischen jungen, langmähnigen Mann anzuschließen, der sich in den Kopf gesetzt hat Schriftsteller zu werden.
Um diesen Traum wahr werden zu lassen, übt sie verschiedene Berufe aus, ist abwechselnd Köchin, Putzfrau, Kindermädchen, Erzieherin, Hebamme, Näherin u.v.m. Obwohl sie stets in der Sorge lebt, am nächsten Tag nicht genug zu essen zu haben, bleibt sie ein Leben lang an seiner Seite. Sie wird ihm zur unentbehrlichen Stütze und hat dazu beitragen, dass er für den Roman Philomena Ellenhub den großen Österreichischen Staatspreis für Literatur bekam.
Anna Bernhard – Le choix d’un destin
Salzburg
„Was hat diese Frau erdulden und erleiden müssen wegen mir. Sie hätte ein schönes bürgerliches Leben haben können!“ schreibt Johannes Freumbichler über sie.
Anna Bernhard
Sie stand in einer Ecke des Raumes, mit glühend roten Wangen, verfolgte den Gulden, der in ihre Richtung rollte. Der Vater saß in der anderen Ecke und wartete auf Annas Reaktion. Er, Johann Pichler, war ein einfacher Mann, Salzburger Bürger und Stechviehhändler von Beruf. Er hatte Ihr soeben eine ordentliche Tracht Prügel verpasst. Die Schläge hagelten nur so auf sie nieder, dass sie wie am Spieß schrie und ein Gendarm von der Straße zur Wohnung heraufkam. Er klopfte und wollte wissen, was da los war.
Anna holte jeden Tag die Milch. Doch heute fehlte das Wechselgeld. Der Vater hatte sie daraufhin eine Diebin, Lügnerin, hinterlistig genannt. Je mehr er sie beschimpfte, umso mehr stieg in ihm die Wut. Dank des Erscheinens des Gendarmen wurde die Situation aber schnell geklärt.
Inzwischen hatte nämlich der angebliche „Dieb“ das fehlende Wechselgeld zurückgebracht und sich Annas Unschuld erwiesen.
Um Annas Aufrichtigkeit zu belohnen hat Johann Pichler jetzt einen Gulden in ihre Richtung gerollt. Als der vor Annas Füßen angekommen war, bückte sie sich langsam, hob ihn auf, betrachtete ihn und – rollte ihn in die Richtung ihres Vaters zurück.
Nein, Anna hat diesen Gulden nicht haben wollen. Sie zeigte Rückgrat. Ihre Reaktion hat ihr ihren Stolz zurückgegeben.
Zum Vater war die Beziehung stets angespannt. Galt er offiziell als ihr Vater, erinnerte sie sich an eine Szene, wo sie ihre Mutter Maria Victoria Schönberg vor ihm, ihrem Gatten, knien und ihm gestehen gesehen hat, dass Anna nicht von ihm war. Sie meinte sogar gehört zu haben, dass Anna von einem Prinzen gezeugt worden sei. Hatte sie das geträumt oder diese Szene wirklich erlebt? Sie erinnerte sich nicht genau. Das Alles war ganz unscharf tief in ihrem Gedächtnis vorhanden.
Ihre Mutter, aus Gorizia, einer Stadt in Venetien (Slowenien), war schon schwanger mit Anna, als sie die Bekanntschaft mit Johann Pichler in Lofer macht. Von dort und Bad Reichenhall kommend hatte sich das junge Paar in Salzburg niedergelassen. Dort verstand sich Anna gut mit ihrer älteren Schwester Fanny, die noch den Familienamen ihrer Mutter, nämlich Schönberg, getragen hat. Johann Pichler hatte weder sie noch ihre jüngere Schwester Johanna Theresia Schönberg, die 1879 ein Jahr nach ihr geboren worden war und ein paar Monate nach ihrer Geburt gestorben ist, legitimiert.
In Salzburg wohnt die Familie in der Nähe von Karl Bernhard, einem Zuschneider, in der Wolf Dietrichstraße.
Anna ist achtzehn, als sie am 1. Oktober 1896 mit ihm, Karl Borromäus Bernhard, in der Kirche Sankt Andrä in Salzburg verheiratet wird. Karl Bernhard ist dreißig. Er ist ein einfacher Mann, der für die Bekleidungsfirma Krivanek arbeitet, seriös und eine angemessene und Partie für sie.
Aber – ist Anna da eine Liebesheirat eingegangen? Die Ehe scheint eher durch die Familien arrangiert gewesen zu sein. Noch Jahrzehnte später wird sie ihren Enkeln anvertrauen, dass sie damals keine Idee gehabt hat, was sie im Hotel in Lofer, wo sie die Hochzeitsnacht verbringen sollten, erwartet. Die Mutter habe erst nachkommen müssen, um sie aufzuklären.
In Salzburg lebt die Familie Bernhard ein bescheidenes Dasein. Zwei Söhne, Karl Johann und Johann Evangelist Hermann (Hans) werden 1897 bzw. 2000 geboren.
„Zu dieser Zeit“, erklärt die Philosophin Elisabeth Badinter in ihrem Essay „Le Conflit. La Femme et la mère“ (Der Konflikt: Die Frau und die Mutter) damals und Jahrzehnte lang war das Kind die natürliche Folge der Ehe. Jede Frau, die gebärfähig war, brachte Kinder auf die Welt, ohne sich lang Fragen zu stellen. Die Fortpflanzung war zugleich Instinkt, religiöse Pflicht und die andere, die sich dem Überleben der Menschenart verpflichtet gefühlt hat. Es war selbstverständlich, dass sich ‘jede normale Frau’ Kinder wünschte.“
Anna ist jetzt verheiratet und hat zwei Söhne. Aber — ist sie glücklich? Sie stellt sich diese Frage nicht. Eine solche Frage stellte sich zu dieser Zeit keine verheiratete Frau. Sie führt das ruhige Leben einer Hausfrau, kümmert sich um die Familie, ist nicht vermögend, aber ihre Zukunft ist gesichert. Sie hat einen Ehemann, der für den Unterhalt sorgt. Zudem hat sie ihre eigene Familie zur Seite. Die Eltern und ihre ältere Schwester Fanny wohnen in der Nähe.
Um das Einkommen der Familie etwas aufzubessern beschließen die Bernhards ein Zimmer an einen Studenten zu vermieten.
Im Oktober 1902 zieht Tuisko (Josef Rumpler) bei ihnen ein. Wie sein Freund Rudolf Kasparek (Verbindungsname Giselher) aus Hallein kommend gehören sie beide zusammen mit ihrem Freund Johannes Freumbichler (Werinhard) der Studentenvereinigung „Der eiserne Ring“, auch “Cheruskia“ genannt, an. Diese predigt unter anderem die Emanzipierung der Frau und die Freiheit zu hetero-. und homosexueller Beziehung. Es ist eine anarchistische Gruppe, die in keinem damaligen Salzburger Vereinsregister aufscheint.
Die jungen Leute besuchen ihren Freund und damit erfährt das Leben von Anna eine Wende.
Sie ist so alt wie diese jungen Männer, eine schöne brünette Frau von feiner und eleganter Erscheinung, in den dunkelbraunen Augen die Lebenslust.
War ihr Leben bis dahin eher monoton gewesen und wurde ihr Temperament, das sich noch in ihrer Jugend gezeigt hat, durch die arrangierte Ehe unterdrückt, so sehnt sie sich nach einem intensiven Leben. Bisher hat sie die Freuden, wie sie die Liebe mit sich bringt, nicht erlebt. Sie ist ganz natürlich Mutter aber nicht zur Frau geworden
Wie Emma Bovary hat sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, um endlich aus ihrer wehmütigen Lage auszubrechen. Sie vertraut sich Kasparek an, glaubt in ihn verliebt zu sein. Doch der ist mehr an seinem Freund Freumbichler als an ihr interessiert.
An Johannes Freumbichler, der sich zu dieser Zeit in Deutschland aufhält. schreibt Kasparek im November 1902 betreffend Anna:
„Sie ist ein gutes und edles Wesen fast noch ein reines und unschuldiges Kind. Sie hat mir schluchzend ihren Kummer anvertraut. Sie ist einem Mann gegeben worden, den sie zu lieben geglaubt hat. Sie ist dabei aber immer die Benachteiligte geblieben.“
Als sie begreift, dass sie bei Kasparek keine Chance hat, interessiert sie sich für Tuisko. Anna lässt ihn zwar nicht gleichgültig. Aber er widersteht ihren Annäherungsversuchen.
In einem Brief erkennt sie:
„Bis jetzt wusste ich nicht, was Leidenschaft ist. Umso mehr kündigt sich diese jetzt an.“ Und sie fügt hinzu:
Ich, das Mädchen mit der finsteren Miene, ist jetzt eine Frau mit glücklichem und stolzem Aussehen. Als man mir erstmals von Liebe gesprochen hat, ist im selben Moment ein Wunder geschehen und ist diese Frau plötzlich eine andere geworden, eine ganz andere. Sie spürt, dass da ein Sturm in ihr tobt.“
Neugierig geworden durch die Briefe von Kasparek, interessiert sich Freumbichler, damals noch Student in Ilmenau im nördlichen Deutschland für das Los von Anna. Am 9. September 1904 schreibt er ihr zum ersten Mal:
„Ich kenne Sie nicht .. ich habe Sie nie gesehen, obwohl Sie es glauben. Als ich damals das Zimmer von Tuisko betrat und Sie nachgekommen sind, hatte ich eine fürchterliche Migräne. Das ganze Zimmer und Sie haben angefangen, sich um mich zu drehen. Dann im letzten November sind Sie vor mir wie ein Komet erschienen und darauf kam noch der Brief von Tuisko.“
Er ermahnt sie aus ihrem ‘Sklavinnen Zustand’ zu entfliehen.
„Sie sind nicht allein, Ihr ganzes Geschlecht befindet sich in einem elenden Zustand der Versklavung. Die Frau ist überall die Untergebene des Mannes, der noch dazu meistens brutal und gefühllos ist. Eine Bewegung ist entstanden, die sich die Emanzipierung der Frau zum Ziel gemacht hat. Sie will der Frau die Freiheit und das Glück zurückgeben.“
„Liebe Frau Bernhard! Es zuckt am Firmament der Blitzstrahl einer neuen Zeit. Es kommt eine neue Welt, die aller Not und aller Leiden Erlösung bringen wird. Es kommt der Tag, an dem Sie dem Glück in die Arme sinken werden.“
Freumbichler und Kasparek halten sich für die Verkünder dieser neuen Welt. Sie bieten ihr ihre Freundschaft an und meinen sie aus ihrer unwürdigen Situation herauszuführen. Sie sollte endlich ihren Wunsch nach Liebe und Frieden nachgeben. Beide sind bereit sie in ihren Kreis aufzunehmen. Dietlinde ist nun ihr neuer Name und sie ist tatsächlich bereit alles zu verlassen und Freumbichler in Ilmenau zu treffen.
Anna: „Ich kann Ihnen nicht sagen, in welche sonderbare Stimmung mich Ihr Brief versetzt hat. Sie sprachen darin von Herzen zu Herzen. Sie bezeichnen sich als meinen Freund. Oh, wodurch habe ich das verdient? Sie sagen, lasst mich doch bei Euch sein. Ich werde mich schon zu ernähren wissen. Ich kann ja in einem Geschäft als Verkäuferin arbeiten oder so etwas Ähnliches machen.“
Freumbichler widmet der blonden Dietlinde ein Gedicht. Sie ist jetzt entschlossen ihre Familie zu verlassen. Freumbichler aber warnt:
„Ein Glück und eine Verbindung, die nie vorhanden war, zu zerstören, ist leicht, zu verantworten aber schwer.“
Anna organisiert mit den drei Freunden zu Weihnachten ein Treffen in Salzburg
„Ich liebe euch mehr als alles auf der Welt; in eure Mitte müsst Ihr mich nehmen, mich erziehen, und lehren nach eurem hohen Anspruch. Ich will euch alles sein. Lasst mich bei euch sein. Sprecht mit mir. Ich liebe euch so innig“.
Freumbichler schreibt sie:
„Ich möchte mich zu dir hinsetzten und mich von dir liebkosen lassen…
Wenn du Lust hast, küsse meine Stirn und meinen Mund nach Herzenslust. Du und ich, wir werden ganz gut zueinander stehen…. Ich werde meine Sachen nehmen, und komme zu dir, um dir wenigstens so gut es geht das Heim zu schaffen, das dein Herz begehrt.“
Weihnachten 1903: Freumbichler und Anna treffen sich heimlich im Hotel Wolf- Dietrich in Salzburg. Mit der Hilfe von Kasparek bereiten sie ihre Flucht vor. Sie kennen sich noch nicht wirklich. Ihr Liebesbedürfnis und ihr Abenteuergeist sind stärker als die Vernunft. Sie lässt einen Mann und zwei kleine Kinder hinter sich.
Karl Bernhard merkt natürlich schnell das Verschwinden seiner Frau und schreibt dem Vater von Freumbichler.
„Am 6. Februar, am Nachmittag, ist mein Weib verschwunden und ergaben die Nachfragen, dass sie sich einen Reisepass in die Schweiz ausstellen lassen und ihre Koffer nach Zürich aufgegeben hat. Es ist also kein Zweifel, dass diese zwei Elenden dort mitsammen leben.
Ich war bis zur letzten Stunde der Meinung, ich bin glücklich verheiratet, und doch wurde ich so schrecklich betrogen. Er ist genauso schuld wie sie. Sie haben mir Achtung und Ehre geraubt und meinen lieben Kindern die Mutter. Es sind das Sachen, die niemand im Stande ist zu ersetzen…… Ihr Sohn wird mit ihr genauso unglücklich werden, wie ich es jetzt bin. Schicken Sie zu diesen Lumpereien kein Geld nach, sie braucht viel…..“
Maria Freumbichler schickt sofort den Brief ihrem Sohn weiter.
„Lieber Hans, .. ich hätte nicht geglaubt, dass du ein so schlechtes Weib, die zwei kleine Kinder von ihrem eigenen Blut verlässt, zu dir nimmst….packe alles zusammen und nimm dir ein kleines Zimmer und jag´ dieses Weib fort.“
Gmunden, am 22 Oktober 2021
Anny Fabjan
Übersetzung aus dem Französischem gemeinsam mit Peter Fabjan
Zitate aus dem Nachlass von J. Freumbichler