Unbedingt (lesen)
Ein Zeitzeuge, der heutzutage, nur weil er »ich« sagen kann, schon als Quelle von unverstellten Aussagen über Ereignisse oder Epochen, Persönliches, Politisches, Kulturelles in Medien aller Art gilt, ist Karlheinz Braun nicht. Denn er weiß zu viel über die Funktion des Gedächtnisses: “Das Gedächtnis funktioniert nach meiner Erfahrung jedenfalls so: das, was ich nicht mehr brauche, vergisst es; das, was angenehm zu erinnern ist, behält es. Und dann gibt es Vorgänge, die sich im Laufe der Zeit verschieben.” Obwohl er behauptet, er habe keine Autobiographie schreiben wollen und auch nicht geschrieben: Der Doyen der deutschsprachigen Theaterlandschaft hat im Alter von 87 Jahren durch eine Kontextualisierung (durch seine Erfahrungen mit Autoren, Geschichte und Ästhetik, Theater und Medien, Verlag, und natürlich Frankfurt am Main) ein Kompendium des Theaters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst. 675 großformatige Seiten braucht er dafür, aber wie soll man sonst Autoren wie Peter Weiss, Bertolt Brecht, Max Frisch, Wolfgang Hildesheimer, Heiner Müller, Dario Fo, Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders (das ist eine kleine Auswahl, die sich der Vorlieben des Verfassers verdankt) einigermaßen gerecht werden, wenn man nicht nur auf die jeweiligen Newcomer der Theaterwelt achtet, sondern die Bühnenbretter als Lebensboden braucht?
Zur Erläuterung: 1932 in Frankfurt am Main geboren, Studium der Philologie und Philosophie, natürlich ebendort, in den fünfziger Jahren Leiter der Studentenbühne (ebendort), Promotion über Max Frischs Roman »Stiller«, 1959 von Siegfried Unseld zum Leiter des Theaterverlags des Suhrkamp Verlags berufen, 1969 Ausscheiden (mit Eklat) als Spätfolge des sogenannten »Lektorenaufstands im Verlag (Genaueres nachzulesen in Siegfried Unseld, »Chronik 1970«, Frankfurt am Main 2010), Gründung im selben Jahr des Verlags der Autoren, einer Genossenschaft, in der die Autoren alle Verlagsbelange in einer Versammlung beschließen sollten (deren Entscheidungen Peter Handke, Gründungsmitglied und nach vier Jahren ausgetreten, zu Vergleichen mit den Urteilen diktatorischer Syteme veranlaßte), Berufung zu dessen Geschäftsführer bis 1998, zwischendrin (1976 bis 1979) ein Intermezzo als Mitglied der Direktion des Schauspielhauses Frankfurt.
Höhen und Tiefen der »Karriere« kennt die Autobiographie nicht: Es herrscht in jeder Zeile der Wille, selbst das Ungeheuerliche oder Unverschämte (es wird nie zitiert, höchstens angedeutet) zu erklären, durch die persönlichen Vorlieben oder Zeitumstände, es gibt keine sogenannten Bloßstellungen, es herrscht Gerechtigkeit gegenüber Personen und Zuständen, soweit sie Menschen möglich ist. Ein feines Buch, ein feiner Autor, ein feiner Mensch.
Ein feiner Mensch muss nicht naiv sein, wie das Theaterstück zeigt, von dem der Titel des Buches stammt:
Herzstück
EINS Darf ich Ihnen mein Herz zu Füßen legen?
ZWEI Wenn Sie mir meinen Fußboden nicht schmutzig machen.
EINS Mein Herz ist rein.
ZWEI Das werden wir ja sehen.
EINS Ich krieg es nicht heraus.
ZWEI Wollen Sie, dass ich Ihnen helfe.
EINS Wenn es Ihnen nichts ausmacht.
ZWEI Es ist mir ein Vergnügen. Ich kriege es auch nicht heraus.
EINS heult.
ZWEI Ich werde es Ihnen herausoperieren. Wozu habe ich ein Taschenmesser. Das werden wir gleich haben. Arbeiten und nicht verzweifeln. So, das hätten wir. Aber das ist ja ein Ziegelstein.
Ihr Herz ist ein Ziegelstein.
EINS Aber es schlägt nur für Sie.
Autor: Heiner Müller
Die Beziehung von Karlheinz Braun zu Thomas Bernhard beschränkte sich auf das erste Theaterstück, das Mitte der Sechziger noch »Die Jause« hieß. Auch aufgrund einer siebenseitigen direkten, umstandslos-kritischen brieflichen Auseinandersetzung mit dem Drama wurde dann »Ein Fest für Boris«, dessen ersten Aufführungsvertrag (Hamburg, Claus Peymann) Karlheinz Braun für den Suhrkamp Verlag unterschrieb.
RF
Karlheinz Braun, »Herzstücke. Leben mit Autoren«, Schöffling & Co.: Frankfurt am Main 2019.
All jene, die eine bebilderte »Chronik« des Verlags der Autoren zum 50jährigen Bestehen durchblättern wollen, sei empfohlen
Wolfgang Schopf und Marion Victor (Hg.): »Fundus. Das Buch vom Verlag der Autoren 1969 – 2019«, Verlag der Autoren: Frankfurt am Main. 302 Seiten.
“An Thomas Bernhard scheiden sich die Geister”
Sich auf ihn einzulassen, ihn respektieren zu können, verlangt, sich mit der Person und dessen Schicksal und dessen Bewältigung zu beschäftigen. Einfach einen Prosatext von ihm zu lesen mag beeindrucken, versäumt zugleich den Menschen dahinter. Ist man zu dieser Empathie nicht fähig, hat man keinen tieferen Zugang zu ihm.
“Die Krüppel beherrschen die Welt” – ein Satz bei welchem er zweifellos von sich ausgegangen ist. War er doch ein von frühauf in der Persönlichkeitsentwicklung gestörter Mensch, zu Unkonventionellem fähig, das er im Bewusstsein eigener Besonderheit, eines bloßen ‘Geworfenseins’ in die Welt, jeder geschichtlichen Größe zugestanden hat. “Ich erfriere von innen heraus” (so der Fürst in Verstörung) wiederum lässt innere Leere und Kälte dort erahnen, wo wir mit der Muttermilch Liebe und Vertrauen aufgesogen haben. Leben wurde nur mehr aus der Reaktion der Umwelt verspürt. Alles Provozieren und Übertreiben daraus verständlich.
Einmal herangewachsen, ist er im Auftreten schließlich stets dem Milieu entsprechend aufgetreten, im Benehmen und Umgang durch die alte Dame aus dem Wiener Großbürgertum bestens geschult, immer Mittelpunkt der Gesellschaft, schlagfertig, charmant, zugleich verletzlich, stets ‘auf der Hut’, zielbewusst, nie harmlos.
Das persönliche Defizit zu einer ‘normalen’ und damit ‘banalen’ Existenz, zugleich der Boden für sein Künstlertum, bestand in der Unfähigkeit zu jeder näheren Beziehung, seinem großem Distanzbedürfnis und gleichzeitigem Verlangen nach Anerkennung und Zuneigung. Das bestenfalls im Sinn von Liebe auf Distanz, also ohne körperliche Nähe, das Sexuelle ein Lebensbereich, der ihm bedrohlich, besonders auf der weiblichen Seite geradezu unheimlich und unerträglich gewesen sein muss. Die, bei hohem Anspruch an den Charakter eines Menschen, gesuchte Nähe brachte viel Enttäuschung, ließ ihn in Einsamkeit zurück. E i n e n Menschen hat er versucht von all dem auszunehmen. Das ist dann sein ‘Lebensmensch’ gewesen. Ihn hat er im Dasein und in der Not letzter Verzweiflung zum Überleben gebraucht, die Natur wider täglicher Erfahrung als zu überwinden empfunden. Es ist “alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt”. Er musste als ‘Leere und Kälte’ erscheinen, als der Ort, von dem keine Liebe, kein Lebensersatz mehr kommen kann.
P. Fabjan