Gehen (1971)

In dieser Erzählung führt Bernhard seinen obsessiv kreisenden Schreibstil ins kaum überbietbare Extrem. Im Zentrum steht der Augenblick, in dem der Protagonist Karrer auf einem der regelmäßigen Spaziergänge mit seinem Freund Oehler ein Wiener Textilgeschäft betritt und plötzlich wahnsinnig wird. Karrer erregt sich darüber, dass ihm der Händler seiner Meinung nach statt erstklassiger englischer Stoffe nur wertlose tschechoslowakische Ware mit unzähligen „schütteren Stellen“ verkaufen wolle. An Karrers Geisteskrankheit ist laut Oehler seine österreichische Umgebung schuld, deren Verhalten auch einen Jugendfreund Karrers vernichtet habe: Der Chemiker Hollensteiner hat sich umgebracht, weil er in seiner Heimat nicht anerkannt wurde.

Die Art, in der diese Vorgänge vorgetragen werden, ist das radikalste Beispiel für Bernhards vermitteltes Erzählen: Ein namenloses Ich gibt Oehlers Bericht über Karrers Erkrankung wieder, eine dritte ›Stimme‹ kommt durch den – als völlig unsensibel dargestellten – Psychiater Scherrer hinzu. So werden die sprachlichen Äußerungen ständig von einer Person zur anderen weitergereicht, markiert durch wiederkehrende Formeln wie „so Karrer, so Oehler zu Scherrer“. Man kann darin zum einen die Erkenntnis gestaltet sehen, dass es kein authentisches Sprechen gibt: „Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert, ist auch ein Satz von Karrer.“ Zum anderen verleihen die auch in späteren Bernhard-Texten verwendeten Einschübe wie „sagte er, dachte ich“ dem Text eine musikalisch-rhythmische Struktur.

1982/83 schrieb der österreichische Komponist Friedrich Cerha nach Texten aus dieser Erzählung sein „Requiem für Hollensteiner“ für Sprecher, Bariton und großes Orchester.

M.M.