Amras (1964)

Thomas Bernhard hat Amras wiederholt als seinen Lieblingstext bezeichnet. In einer Zusammenstellung kleiner fragmentarischer Texteinheiten (Briefe, Tagebuchnotizen, Aphorismen) überliefert er die Krankheitsgeschichte zweier Brüder. Die beiden leben nach einem Selbstmordversuch der gesamten Familie, der allerdings nur zum Tod der Eltern geführt hat, in einem Turm, der für sie Gefängnis und Zuflucht zugleich bedeutet. Ihr Onkel mütterlicherseits hat sie dorthin gebracht und damit ihre Einlieferung ins Irrenhaus verhindert. Eines Tages findet der eine Bruder den anderen nach einem Sturz tot auf. Daraufhin zieht er sich in das Dorf Aldrans zurück, wo er immer mehr in die Isolation gerät. Das letzte Textfragment kommt aus der Irrenanstalt Schermberg.

Mit der Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Brüder, eines künstlerischen und eines naturwissenschaftlichen Typs, entwickelt Bernhard ein Grundmodell seiner Literatur. In Amras spielt er dabei auf die Krankheitsphilosophie von Novalis an, die ihrerseits auf die Erregungstheorie des schottischen Arztes John Brown zurückging: Jede Krankheit bestehe in einer zu starken oder zu schwachen Erregung des lebendigen Organismus. In diesem Sinn verkörpert das Brüderpaar den Gegensatz von extremer Reizausgrenzung und extremer Reizoffenheit, die mühsame Regelung des Gleichgewichts zwischen Selbstverlust und totaler Isolation, zwischen Abgrenzung von und Hinwendung zu den anderen ist eines der bestimmenden Themen in Bernhards Werk.

1968 wurde am Landestheater Linz eine Ballett-Version von Amras mit Musik von Anton von Webern (Sechs Orchesterstücke, op. 6) nach einem Libretto von Hans Rochelt aufgeführt.

M.M.