Der deutsche Mittagstisch (1988)

Zwischen 1978 und 1981 schrieb Thomas Bernhard sieben Kurzdramen, die nicht österreichische, sondern deutsche Zustände zum Gegenstand haben. Das Ergebnis der Bestandsaufnahme aber ist ähnlich: Kaum beginnen die Figuren zu reden, schon geben sie sich als Nazis zu erkennen; oder wie es in der absurden Miniatur Der deutsche Mittagstisch heißt: „Jetzt hab ich aber genug / In jeder Suppe findet ihr die Nazis“. Ausgerufen von Herrn Bernhard, der mit seiner Frau ihrer beider Nachfahren den Nationalsozialismus mit dem Löffel eingeben muss, weil kein Nahrungsmittel aus Deutschland „nazifrei“ ist.

Mit den Mundartstücken A DodaMaiandacht und Match tritt Thomas Bernhard den Beweis an, dass er schon immer, wie es so schön heißt, „dem Volk aufs Maul geschaut“ hat. In der dialektal geprägten Rede dieser dramatischen Anti-Genre-Bilder finden sich viele der rhetorischen Figuren und grotesken Spielmittel, die Bernhard auch in seinen anderen Texten einsetzt. In allen drei Stücken treiben die Gemeinplätze der Intoleranz, des Fremdenhasses und des faschistoiden Gedankenguts ihre Blüten: In Match steigern sich die Vorurteile gegenüber dem Ausland und demonstrierenden Studenten im Monolog einer Polizeibeamtengattin zur Verlautbarung ihrer Schieß- und Mordlust, während ihr Mann ein Fußballspiel im Fernsehen verfolgt. Resultat der Maiandacht zweier Nachbarinnen ist es, dass alle Türken und Jugoslawen „vagast ghörn“. Und A Doda erweist sich im gleichnamigen Stück keineswegs als Leiche, sondern als ein auf der Straße liegendes Bündel von Hakenkreuzplakaten, das der Mann der „ersten Frau“ von seinem Moped herunter verloren hat.

Die Dramolette Freispruch und Eis kehren dem Volkstümlichen wieder den Rücken. Sie wenden sich Vertretern aus Jurisprudenz und Politik zu, die sich ihrer nationalsozialistischen bzw. militaristischen Vergangenheit rühmen. Die Herren Gerichtspräsidenten und -räte Sütterlin, Mühlfenzl und Hueber gewährten sich gegenseitig „Freispruch“ von ihren Massenmorden zur Nazizeit, was ihnen Grund zum Feiern mit ihren Frauen gibt. Beim Champagner sehen sie sich als Opfer der „linken Saupresse“, als „Verschwörung gegen das Judentum“ und „deutsche Herrenmenschen“. In „Eis“ werden zwei Ministerpräsidenten samt ihren Gattinnen, die sich so sehr Eis wünschten, von einem türkischen Eisverkäufer niedergeschossen. Vorher hatten sich die genusssüchtigen Weltgereisten darin bestärkt, politisch so hart wie früher durchzugreifen.

Wie schon in Der deutsche Mittagstisch enthält Alles oder nichts rüde Attacken auf deutsche Spitzenpolitiker. Ort der Handlung ist kein Fernsehstudio, sondern das Frankfurter Schauspielhaus. Die damaligen Spitzen des Staates, Bundespräsident Carstens, Bundeskanzler Schmidt und Außenminister Genscher, müssen sich in der skurrilen Promi-Quiz-Show an einem Sackhüpfwettbewerb beteiligen sowie in ein Jauchefass kriechen, um an einen Stimmzettel zu kommen, und sich schließlich einer Gewissensprüfung stellen: Die alles entscheidende Frage „Sind Sie im Herzen / Nationalsozialist“ beantworten alle drei mit Ja.

U.B.