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Transkription der Postkarte vom  17.09.1962

17.9.1962, Pöllau am Hartberg

(Datum und Ort laut Poststempel)

Lieber Peter!

für Karte u. Brief danke! Viel-

leicht sehn wir  uns in Wien??!

Afrika wird vielleicht bis November

dauern. Ich bin da in ein  Dorf um

zu arbeiten. Alles aber geht Ⅰ A.

  1. ich bin sehr glücklich. Ich hoffe

von Dir das Gleiche! Warum nur 1

Tag in London? Ich wäre gern dort. Es

ist ein gutes Jahr – hoffe für Dich auch!

Weißt Du alles über Bruxelles?,

was Dich betrifft? Eine gute Rück-

kehr wünscht Dir Thomas.

Mr.

PETER FABJAN

(LLANGUYTAN-

HOSPITAL

DENBIGH

ENGLAND)

7 LITCHFIELD AVE

MORDEN

SURREY.

 

 

 

 

 

 

 

 

Thomas Bernhard hat man sich als einen überglücklichen Menschen vorzustellen. Auf einer Ansichtskarte an den Bruder vom April 1962 (Posteingang 3) bezeichnete er sich als den »glücklichsten Menschen«, nun ist er, wenige Monate später, »sehr glücklich«. Stellte sich am Anfang des Jahres das Glücksgefühl beim Gehen ein, allein, resultierte es aus dem – später vielfach perhorreszierten – Schreiben, und zwar an der ersten Fassung von »Frost«.

Möglicherweise wird das »Dorf« Pöllau bei Hartberg in der Steiermark, in dem er arbeitete, eines Tages, wie Schwarzach-St. Veit, Kultstatus bei allen »Frost«-Lesern erlangen, was zur Voraussetzung hätte, die genauen Beweggründe für den Aufenthalt zu kennen: Bot sich Pöllau angesichts des heißen Sommers in Wien (teilweise 34 Grad) im Wortsinn als Sommerfrische an? Wieso verfiel Bernhard auf diesen Ort? War er allein dort? Undsoweiterundsofort.

Neben solchen bislang unbeantworteten Fragen tauchen in der Ansichtskarte die im Zeitraum 1960 – 1962 üblichen running gags auf: Ghana und London. Über das angeblich sechs Wochen dauernde Zwischenspiel als Bibliothekar im dortigen Österreichischen Institut kann nur so viel als dokumentiert gelten, dass Bernhard etwa Mitte September 1960 nach London aufbrach (eigenen Angaben zufolge entstanden Teile des »Gedichts« »Ave Vergil«, das 1961 angeblich abgeschlossen wurde und das er erst 1981 zur Publikation bestimmte, während dieser Visite). Annähernd zwei Jahre später scheint er sich in die Metropole zurückzusehnen. Und da der Mediziner in Ausbildung ihn von einem einmonatigen Stipendiumsaufenthalt in einem »Hospital for breast disease« in Llangwifan/Wales im September 1962 (bevor er zwei Semester in Brüssel studierte) unterrichtet hatte, muss er sich wundern, warum der bloß einen eintägigen London-Besuch absolvierte hatte, denn schließlich hatte er eigens für den jüngeren Bruder, eigenhändig, ein ganzes Blatt mit Vorschriften zum Besuch diverser Gegenden (die Auswahl zu kommentieren verlangt einen anderen Kontext) aufgesetzt. So verhalten sich die weltgewandten Kosmopoliten gegenüber ihren Angehörigen. Aber nochmals wird der jüngere Bruder-Arzt den Anweisungen des älteren Schriftstellers nicht so leicht entkommen.

RF

 

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