Thomas Bernhards Lyrik
Bereits als Jugendlicher hat Thomas Bernhard begonnen, Gedichte zu schreiben, die noch sein Großvater, Johannes Freumbichler, beurteilte und die sich im Nachlass erhalten haben. Die frühe Lyrik bis 1955 ist traditionell und hält an der Sehnsucht nach Heimat und am Wunsch nach gesicherter Identität fest. Erst ab Mitte der 1950er Jahre spricht das lyrische Ich von der „Krankheit [s]einer Lieder“ und einer „Biographie des Schmerzes“. Einer kleinen literarischen Öffentlichkeit wird Bernhard mit seinem ersten Gedichtband Auf der Erde und in der Hölle (Otto Müller, Salzburg 1957) bekannt, dem In hora mortis (Otto Müller Verlag, Salzburg 1958) und Unter dem Eisen des Mondes (Kiepenheuer & Witsch, Köln 1958) folgen. Thematisch reichen sie von der Auseinandersetzung mit Herkunft und Identität über die Erfahrung der Heimatlosigkeit und des Kriegs bis hin zur Gottsuche und religiösen Verwurzelung des Subjekts. Im Laufe der Zeit beurteilte auch Bernhard selbst sein lyrisches Schaffen durchaus ambivalent. Der Suche nach sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, einer eigenen Stimme, steht der deutlich erkennbare Bezug auf Traditionen und Vorbilder (Baudelaire, Rimbaud, Rilke oder Trakl) gegenüber. Indem seine Prosa „die besseren Entwicklungsmöglichkeiten enthielt“, wie Josef Donnenberg bemerkte, lässt sich Ende der 1950er Jahre eine deutliche Abkehr von der Lyrik erkennen. Verstärkt wurde dies 1961 durch die Ablehnung des 140 Gedichte umfassenden Konvoluts mit dem Titel Frost durch den Otto Müller Verlag. Allerdings brachte er 1962 den Prosagedichtband Die Irren. Die Häftlinge heraus, 1981 das eigenen Angaben zufolge bereits 1959/60 entstandene reimlose „Gedicht“ Ave Vergil sowie 1987 eine Neuauflage von In hora mortis. Außerdem edierte er eine Auswahl von Gedichten der mit ihm befreundeten Kärntner Lyrikerin Christine Lavant.