Vor dem Ruhestand. Eine Komödie von deutscher Seele (1979)
Das Stück befasst sich mit einem politischen Thema, auch wenn seine Figurenkonstellation unübersehbar den in Bernhards Werk durchgehaltenen Grundmustern folgt. Zu dieser Zeit war Claus Peymann wegen seines humanitären Einsatzes für Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe als Intendant des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart entlassen worden; auch der für diesen Hinauswurf verantwortliche Ministerpräsident Hans Filbinger verlor jedoch sein Amt, nachdem sich (u. a. durch Recherchen des Dramatikers Rolf Hochhuth) herausgestellt hatte, dass er bis ans Kriegsende als NS-Marinerichter tätig gewesen war.
Im Mittelpunkt von Vor dem Ruhestand steht ebenfalls ein angesehenes Mitglied der Nachkriegsgesellschaft, der Gerichtspräsident Rudolf Höller, der aber seiner nationalsozialistischen Gesinnung treu geblieben ist. Zusammen mit ihm leben seine beiden Schwestern in dem gemeinsamen Haus: Vera, mit der er (wie auch andere Bernhard-Figuren) eine inzestuöse Beziehung unterhält, und Clara, die seit einem Bombenangriff während des Krieges gelähmt ist und dadurch ihre beiden Geschwister an der Verdrängung der Schattenseiten ihrer Vergangenheit hindert. Alljährlich feiert Höller in SS-Uniform den Geburtstag Heinrich Himmlers. Diesmal jedoch bricht er auf dem „Höhepunkt“ seiner wiederbelebten Größenphantasien mit einem Herzanfall zusammen – von den Grenzen her, die menschlichen Machtvorstellungen durch die letztliche Hinfälligkeit des Körpers gesetzt sind, demontiert Bernhard (darin einem Grundmodell seiner Texte folgend) den Herrschaftswahn der „Mächtigen“.
Nicht zufällig soll der Autor diesen Text als sein bestes Theaterstück bezeichnet haben (so Traugott Buhre, der bei der Uraufführung die Rolle Höllers verkörperte). Es enthält nicht nur die genaue Nachzeichnung von psychischen Strukturen, die als Substrat für autoritär-faschistische Systeme dienen können: von Identitätsängsten, die dem von moderner „Zersetzung“ traditioneller Gewissheiten irritierten Einzelnen die Flucht in die politische und kulturelle Antimoderne attraktiv erscheinen lassen. In der Familiengeschichte der Geschwister Höller dokumentiert sich wie in kaum einem anderen Stück des Autors die Übermacht der Vergangenheit, der Wiederholungszwänge und der festgefahrenen Verhaltensmuster, aus denen sich seine Figuren nicht mehr zu befreien vermögen, deren Rigidität ihnen jedoch zugleich auch persönliche Stabilität verschafft: „So viele Jahre spielen wir unsere Rolle / wir können nicht mehr heraus“, charakterisiert Vera diese Lebensform. „Wir haben unser Theaterstück einstudiert / seit drei Jahrzehnten sind die Rollen verteilt / jeder hat seinen Part / abstoßend und gefährlich […] / Wir existieren nur / weil wir uns gegenseitig die Stichwörter geben / weiter“.
M.M.