Der Ignorant und der Wahnsinnige (1972)
Der Ignorant und der Wahnsinnige wurde 1972 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Der Salzburg-Bezug ist deutlich zu erkennen: Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Auftritt einer Koloratursängerin als „Königin der Nacht“ in Mozarts Oper Die Zauberflöte, die Bernhard wiederholt als eines seiner musikalischen Lieblingsstücke bezeichnet hat (vgl. Der Atem).
Doch anders als in Schikaneders Text, der sich als eine Art Propagandastück der österreichischen Aufklärung im Geiste Josephs II. lesen lässt, mündet das Stück in jener Auflösung und Finsternis, die bei Bernhard immer wieder für die Bemühungen seiner Figuren, ihre Existenz zu stabilisieren, den Hintergrund bildet. Schon das detailgetreue Protokoll einer Leichensektion, das der „Wahnsinnige“, ein von der anatomischen Zergliederung des menschlichen Organismus besessener Arzt, dem trunksüchtigen Vater der Sängerin vorträgt, hält den gesamten Text hindurch die Vorstellung von Tod und Zerfall präsent.
Bernhard behandelt u. a. die Deformation des Menschen durch die Kunst, die ihn zu einem Mechanismus, zur „Koloraturmaschine“, werden lässt. Die Sängerin verkörpert nicht nur perfekte Künstlichkeit und Disziplin; an ihr zeigt sich auch, wie anstrengend es ist, sich allabendlich der kritischen Beobachtung durch das Publikum auszusetzen. Am Ende entzieht sie sich dem verhassten Kunstbetrieb, indem sie ihre kommenden Verpflichtungen absagt.
Das Stück ist nicht zuletzt wegen des so genannten „Notlichtskandals“ in die Theatergeschichte eingegangen: Als sich die Salzburger Festspiele aufgrund der österreichischen Gesetzeslage weigerten, am Ende die im Nebentext vorgeschriebene absolute Finsternis eintreten zu lassen, kam es in Salzburg zu keiner weiteren Aufführung mehr.
M.M.