Die Billigesser (1980)
Der Privatgelehrte Koller, die Hauptfigur der Erzählung, hat vor 16 Jahren durch einen Hundebiss im Wiener Türkenschanzpark das linke Bein verloren; er arbeitet seither an einer Studie über die Physiognomik. Kurz vor der Amputation hat er vier „Billigesser“ kennen gelernt, die in der Wiener Öffentlichen Küche, der WÖK, stets das billigste Essen wählen; sie haben ihn damals trotz seiner körperlichen Beschädigung ohne Umstände in ihre Mitte aufgenommen. Als er nun viele Jahre danach eines Tages aus der Gewohnheit eines stets gleich ablaufenden Spaziergangs ausbricht, erinnert er sich plötzlich an die damaligen Freunde. In einer Art Erleuchtung gelingt es ihm, aus dem Studium der vier Billigesser-Physiognomien die ersten vier Kapitel der geplanten Studie abzuleiten. Er kann aber dem Erzähler, einem Bekannten Kollers aus früher Kindheit, nur noch diese vier Teilabschnitte vortragen; kurz bevor er ihm das fünfte und entscheidende Kapitel erzählen will, stirbt er an den Folgen eines Treppensturzes.
In Die Billigesser werden mehrere bekannte Bernhard-Themen durchgespielt. Wie z. B. Konrad im Kalkwerk arbeitet auch Koller an einer wissenschaftlichen Studie, die er nicht vollenden kann, und wie dieser erhebt er den Anspruch auf komplette Erfassung des Weltganzen. Man kann den Text als Parodie auf traditionelle Genievorstellungen verstehen: Metaphysische Totalerkenntnis, wie sie etwa von den Romantikern noch angestrebt wurde, erscheint im späten 20. Jahrhundert nicht mehr glaubhaft. Man kann ihn aber auch als tragikomische Geschichte eines verrückten alten Mannes lesen, der vergeblich versucht, ein wahnhaftes wissenschaftliches Projekt zu verwirklichen.
M.M.