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Transkription der Postkarte vom 05/06.04.1962

Trebinje  5./ 6.Ⅳ.62

Lieber Peter,

ich bin seit Tagen allein

in den Bergen unterwegs,

hoch heroben im Karst, mache

6–10-Stundenmärsche. Hier

ist kein Mensch, oft nimmt

mich ein Auto mit. Hede

ist glücklich unten am Meer

in Ragusa, wohin ich in 2-3

Wochen zurückkehre. Ich bin

der glücklichste Mensch! Schade,

daß wir uns nicht mehr ge-

sehen haben. Laß´ Dirs

gut gehen u. Dir die

Welt nicht zu Kopf stei-

gen. Dein

Thomas.

Österreich

Peter FABJAN

Studentenheim

Wien Ⅸ

Porzellangasse



 

Als Liebhaber von Komparativ und Superlativ benutzt Thomas Bernhard bekanntlich nicht häufig  die Grundformen von Adjektiven. Wenn Frau Hedwig Stavianiceks Aufenthalt auf der Ansichtskarte vom April 1962 in Ragusa, also Dubrovnik, als »glücklich« bezeichnet wird, muss der Kartenschreiber im Karst von Trebinje sich seinem Medizinstudenten-Bruder als der »glücklichste Mensch« vorstellen – soll der Angesprochene hinzudenken: »der glücklichste Menschen unter allen Österreichern«, oder, Bernhard gemäßer (erlaubter Komparativ?), »der glücklichste Mensch auf der Welt«, zu lesen als »auf der ganzen Welt«? Die Form der Steigerung ist, abstrakt betrachtet, das übliche Modell seiner Sätze (fehlt nur die Bezeichnung als »überglücklich« (warum?) – aus dem Rahmen fällt das zugrunde liegende Adjektiv, wurde Bernhard doch abgestempelt zum Virtuosen des Unglücks. Da für eine ironische Interpretation der Selbstcharakterisierung kein Anlass erkennbar ist, könnte eine Bernhardsche Variante der Saulus-Paulus-Verwandlung als Erklärung dienen, in welche Richtung sie sich vollzog, wäre dann immer noch zu prüfen. Der »glücklichste Mensch« macht sich also nach seiner Rückkehr von der Kroatien-Reise daran, die zweite Version eines zuvor existierenden Typoskriptes abzuschließen, das fast genau ein Jahr später, erneut umgearbeitet, aber in seinem Tenor nicht verändert, als Frost im Mai 1963 in den Buchhandlungen liegt, der Roman, in dem das allesverfinsternde Unglück dominiert. Belege für die Konversion gibt es, etwa in einem der Versatzstücke aus dem unablässigen Schwadronieren des Winterspaziergängers: »Wie es kein Glück gibt, Glück nicht gibt. « Lässt man die triviale Verwendung von Unglück wie Glück außer Betracht und stellt das Leseverhalten um von schwarz auf weiß, beschäftigt sich mit genuinen Glücksmomenten in Frost, überrascht deren Anzahl, und zwar an zentralen Stellen: »›Bei den Großeltern«, sagte er, ›wo das Glück aus und ein ging und stundenlang blieb, unaufgefordert wohlgemerkt, konnte man staunen, wie ohne Übergang plötzlich eine tödliche Stimmung herrschte, die alles, was diese Stimmung war, zu Eis erstarren, ja schließlich vergessen ließ: den Spaziergang durch den Wald, die Schlittenfahrt über den See, das Vorlesen, das glasklare Wasser. Eine Hand fährt dazwischen, und es gibt keine Widerrede.‹ Wie ja überhaupt Verbrechen und Unglücksfälle Folgen von großem Glück seien. « Und weiter (Alfred Pfabigans These stützend, wonach der Autor den »Willen zum Glück« ernst nehme): »Waren Sie eigentlich jemals glücklich? Und haben gewusst, was Glück ist? Und in einer Situation, aus der jemals wieder herauszukommen Sie nicht mehr geglaubt haben?« Glück – eine der Beschwörung werte Kategorie des Vergänglichen, gleichwohl Vorauszusetzenden, zugleich Vorausgehend-Fundierendem wie zu Erreichendem?

Um die Postkarte des Einunddreißjährigen mit Bedeutung zu überladen: Die Bedingungen für das Glücklichsein, zumindest des Autors, werden hier bereits angesprochen – das sprichwörtliche den »Alleingang gehen«, sowie für Notfälle, wenn der Absturz aus den Höhen droht, eine rettende Person unten, im Hintergrund.

Gegen jene, die nun meinen, »das Paradies« beschränke sich, wie die autobiografischen Schriften nahelegen, auf die Erfahrung des Kindes mit Großeltern auf dem Land, sei Reger aus Alte Meister zitiert (zur Unterscheidung oder Nicht-Unterscheidung von Figurenrede und sogenannter Selbstaussage wäre viel zu sagen): »Ich bin als Kind auf dem Land recht glücklich gewesen, aber glücklicher war ich doch immer wieder in der Stadt, wie ich auch später und jetzt viel glücklicher in der Stadt bin, als auf dem Land. Wie ich ja immer viel glücklicher in der Kunst, als in der Natur gewesen bin, die Natur ist mir zeitlebens unheimlich gewesen, in der Kunst habe ich mich immer geborgen gefühlt.«

 

RF

1 Antwort
  1. Michael Werbowski sagt:

    It is wonderful to read these postcards..
    My German isn’t very good but good enough to appreciate Bernhard’s style of handwriting..

    Antworten

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