„schrieb und schrieb und schrieb…“
Von Martin Huber
Der im Titel zitierte Schluss der Erzählung Die Mütze durchstößt mit seiner Perpetuierung des Schreibvorgangs die Grenze des Einzeltextes und lässt diesen gleichsam als „fixierte(s) Zwischenresultat des Schaffensprozesses“ (Hurlebusch 1998, S. 10) zurück. Er verweist somit zumindest indirekt auch auf die anderen Texte des Autors, letztlich auf dessen gesamten literarischen Nachlass. Und er lenkt zugleich die Aufmerksamkeit auf den Schreibvorgang selbst, auf die Arbeitsweise Thomas Bernhards.
Beide Themenbereiche – Arbeitsweise und Nachlass – nehmen schon im veröffentlichten Werk eine zentrale Stellung ein. Zu den wiederkehrenden Grundkonstellationen in Bernhards Texten gehört jene, in der der Protagonist eine „fertige“ Studie im Kopf hat, die er „nur noch“ aufs Papier zu bringen braucht, woran er freilich scheitert. Ein typischer Vertreter dieser Spezies ist z.B. Konrad im Roman Das Kalkwerk, der es nicht schafft, seine jahrzehntelang betriebene Studie über das Gehör zu Papier zu bringen. Zum Ende des Romans findet sich folgende – für den Protagonisten freilich zu spät kommende – Einsicht in Gründe für dieses Scheitern:
„(…) kurz vor dem Unglück (…) sei er sich der Tatsache bewusst, dass es überhaupt keinen idealen, geschweige denn idealsten Augenblick, die Studie niederschreiben zu können, gebe, weil es niemals und in keiner Sache und in nichts den idealen, geschweige denn den idealsten Moment oder Augenblick oder Zeitpunkt überhaupt geben könne. (…) das Wichtigste habe ihm gefehlt: Furchtlosigkeit vor Realisierung, vor Verwirklichung, Furchtlosigkeit einfach davor, seinen Kopf urplötzlich von einem Augenblick auf den andern auf das rücksichtsloseste um- und also die Studie auf das Papier zu kippen.“ (Kw 269f.)
Auch wenn es hier um eine wissenschaftliche Studie geht, so kann das auf Bernhards eigenes Schreiben hin gelesen werden, gleichsam als Gegenmodell, das durch seine Darstellung zugleich gebannt wird. Denn gerade in der Beschreibung des Konradschen Scheiterns am Schreiben seiner Studie konstituiert sich der Bernhardsche Text. Bernhards Roman liegt uns vor, weil sein Autor – so kann man mit einer seiner prägnanten Wendungen formulieren – zu einem entscheidenden Zeitpunkt in die entgegengesetzte Richtung gegangen ist, nämlich statt Konrads „ewiger“ Konzeption die – wie auch immer – mangelhafte Praxis des Schreibens gewählt hat.
Ein Verdienst der von der französischen critique génétique inspirierten Textgenetik, verstanden als methodische Erschliessung des Schaffensprozesses (vgl. Hurlebusch 1998, 16), ist es, den einzelnen Textstufen des Entstehungsprozesses von Werken, wir sie uns im Nachlass Thomas Bernhards erhalten sind, eine autonome Qualität zuzusprechen, den Zeugnissen dieses Arbeitsprozesses einen eigenen Ausdruckswert zuzuerkennen. Die Akzentverschiebung vom Produkt auf das Produzieren ermuntert beim Versuch, aus der Arbeitsweise den Autor und sein Werk besser zu verstehen.
Geht man von der groben Einteilung der Autoren in Kopf- oder Papierarbeiter aus, so stellt man schnell fest, dass diese Schubladen nicht geeignet sind, Thomas Bernhard darin passgenau abzulegen. Aber sie können als Ausgangspunkte für die versuchsweise Positionierung des Autors in einem Spannungsfeld dienen, das den jeweiligen Schreibprozess genauer fasst als einen entweder „vorherrschend reproduktiven, ideengestützten, werkgenetischen“ oder einen „vorherrschend konstruktiven, sich selbst befruchtenden, psychogenetischen“ (ebd. 37). Protagonisten wie etwa Konrad im Kalkwerk – gelänge ihnen ihr Werk – verkörperten geradezu den Prototyp des Kopfarbeiters, des reproduktiven Schreibers, für den alles an der Übertragung des Vorgedachten in Geschriebenes hängt. Die Arbeitsweise ihres Autors jedenfalls, der dieses Scheitern beschreibt, unterscheidet sich davon wesentlich. Im Nachlass lassen sich zumindest einige Hinweise auf „konstruktive“ Elemente der Bernhardschen Schreibweise finden.
Nehmen wir den Roman Frost als Beispiel. Zwar gibt es im Nachlass ein Entwurfsblatt, das aber kaum mehr als die grobe Struktur des Romans festhält und nicht einmal entfernt z.B. an die Differenziertheit Dodererscher Konstruktionsskizzen herankommt. Bei Bernhard handelt es sich um ein Grobgerüst, die eigentliche Arbeit erfolgt erst in der Schreibpraxis, in intensiven Arbeitsphasen über einige Wochen. Dass der eigentliche Arbeitsprozess tatsächlich erst an der Schreibmaschine, auf dem Papier stattgefunden hat, dafür gibt es in den Frost-Typoskripten Anhaltspunkte. Auffallend oft nimmt eine der Episoden des Romans im Typoskript genau eine, bis an die Ränder voll beschriebene Seite ein; dazu verringert Bernhard immer wieder in den letzten Zeilen den Zeilenabstand von eineinhalbzeilig auf einzeilig und schreibt bis an den äußersten unteren bzw. notfalls auch noch oberen Blattrand (siehe Abb.: NLTB, W1/3a, Bl. 15). Dass für ihn die dabei entstehende rhythmische Gliederung ein bedeutsamer Aspekt war, darf nicht zuletzt aufgrund von Selbstaussagen, etwa in Drei Tage, vermutet werden, wo Bernhard sein Schreiben als „musikalische[n] Vorgang“ (It 147) charakterisiert hat.
Der Gesamttext setzt sich aus einer Vielzahl solcher „Seitenepisoden“ zusammen, manche nehmen auch genau zwei oder genau drei Typoskriptseiten ein. Er konstituiert sich also aus einer Aneinanderfügung von Textstücken, womit er ein weiteres Merkmal vorwiegend konstruktiven Schreibens erfüllt. Hurlebusch sieht ein solches Verfahren „in der prozessualen Rückbezüglichkeit des Schreibens auf sich selbst“ (ebd. 46) begründet. Der Blick des Autors auf das Geschriebene, der „das Denken unter die Macht und Dynamik des Auges“ (ebd. 43) bringe, habe entscheidende genetische Bedeutung sowohl für das Weiter- als auch für das Umschreiben des Textes. Letzterer Aspekt kommt bei Bernhards Roman Frost selbst noch in einer sehr späten Arbeitsphase dadurch zum Ausdruck, dass er offenbar bis zuletzt die Position einzelner Episoden innerhalb des Romanganzen verändert hat. Und diese prinzipielle Austauschbarkeit einzelner Elemente hat darüber hinaus für den Autor – verglichen gerade mit seinen Protagonisten, die immer schon den endgültigen Text anvisieren – den entschiedenen Vorteil, daß sie den jeweils realisierten Text im „Modus des Probehandelns“ (ebd. 45) belässt und damit den wiederkehrenden Horror vacui vor dem weißen Blatt Papier überspielt, die „Schwierigkeit […] anzufangen“ (It 149) überwindet.
Das so entlastete Schreiben kann für den Autor einerseits zum „Vollzugsmittel der ästhetisch-geistigen Selbststeigerung“ (Hurlebusch 1998, 42) werden, andererseits zum „Hebzeug“ (ebd., 43) von Gedanken, Erinnerungspartikeln, Vorstellungsbildern, aber auch des Halb- oder Unterbewussten. Ihm wächst dabei auch eine psychogenetische Funktion zu, insofern der Autor durch dieses schreibende Probehandeln auf symbolische Weise z.B. biographische Konflikte zu lösen imstande ist. So betrachtet, stellt sich Thomas Bernhards Schreiben als ein früh einsetzender und erst mit seinem Tod endender, ununterbrochener Prozess der Selbstgewinnung dar, ein Prozess, in dem die veröffentlichten Werke tatsächlich nur Etappen eines viel längeren Wegs darstellen. Um zum Schluss noch einmal Bernhard zu Wort kommen zu lassen: „So ist es auch falsch, ein sogenanntes Kapitel in einem Buch wirklich zu Ende zu schreiben. […] Und der größte Fehler ist, wenn ein Autor ein Buch zu Ende schreibt.“ (It 158)
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine stark gekürzte Fassung des Beitrag von Martin Huber im Katalog „Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlaß“, hg. von Martin Huber, Manfred Mittermayer und Peter Karlhuber: Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 69-79.
Literatur:
F Frost. Frankfurt am Main: Insel 1963.
It Der Italiener. Salzburg: Residenz 1971.
Kw Das Kalkwerk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970.
Hurlebusch 1998 = Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens, Tübingen: Niemeyer 1998 (= Beihefte zu Editio, Bd. 10), S. 7-51.