Antworten auf Thomas Bernhard aus der internationalen Literatur

Von Manfred Mittermayer

Thomas Bernhard hat für sein literarisches Werk nicht nur ein ständig wachsendes Publikum gewonnen (zurzeit gibt es davon Übersetzungen in etwa 45 Sprachen), sondern mit den davon ausgehenden Anregungen auch eine außergewöhnlich große Zahl an Schriftstellerinnen und Schriftstellern angesprochen. In der deutschsprachigen Literatur ist er vielleicht der am meisten stilprägende Autor nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber auch in anderssprachigen Ländern hat eine Reihe prominenter Schreibender in ihrer Arbeit auf Bernhards charakteristischen Stil reagiert und eigenständige Antworten darauf versucht. Einige Beispiele dafür seien hier angeführt.

1980 erschien der Roman Respiración artificial (Künstliche Atmung; dt. 2002) des Argentiniers Ricardo Piglia (geb. 1941). Das Buch besteht aus literarischen Spiegelungen zwischen mehreren Realitätsebenen – es handelt von einem jungen Schriftsteller, der nach der Publikation seines ersten Romans u. a. den Schwiegervater des Romanhelden kennen lernt, einen über 90-jährigen Senator, der nach einem Schussattentat gelähmt im Rollstuhl sitzt: als Symbol für die Geschichte Argentiniens. Der Senator erscheint wie eine Gestalt aus Bernhards Literatur; er bezeichnet die Familie als „blutbefleckte Institution“, spricht vom alles überschwemmenden Tod und beklagt die herrschende Kälte, die er gleichzeitig als „Voraussetzung für das Denken“ empfindet. Außerdem wird im Roman ein Exilant zitiert, der gerade „ein ziemlich bemerkenswertes Buch von Thomas Bernhard“ übersetzt.

Noch spektakulärer ist die Wirkung, die Bernhard in El Salvador ausgelöst hat; dabei begegnen wir in radikalisierter Version einem Aspekt, der für Bernhards öffentliches Erscheinungsbild in Österreich von entscheidender Bedeutung war: dem unlösbaren Konflikt zwischen dem Autor und seinem Herkunftsland. Dass der Autor Horacio Castellanos Moya (geb. 1957) als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Mittelamerikas gilt, wird oft mit seinem außergewöhnlich mutigen politischen Engagement begründet. Moya wurde in Honduras geboren, wuchs in El Salvador auf, verbrachte ab 1981 die Kriegsjahre außerhalb seiner Heimat und versuchte ab 1991, nach El Salvador zurückgekehrt, beim Aufbau einer neuen Medienlandschaft mitzuwirken. 1997 verfasste er den Roman El Asco (Der Ekel), in dem er seiner Enttäuschung über die Situation in El Salvador nach dem Krieg Ausdruck verlieh. Der Roman trägt den Untertitel Thomas Bernhard in San Salvador, und nach seiner Publikation wurde der Autor dermaßen mit Morddrohungen überhäuft, dass er von neuem sein Land verließ.

Der ungarische Nobelpreisträger (2002) Imre Kertész (geb. 1929) veröffentlichte 1990 den Prosatext Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (dt. 1992), den eindringlichen Monolog eines Ich-Erzählers namens B., in dem dieser seine Weigerung begründet, nach Auschwitz Leben zu reproduzieren. Wenn B. die Geschichte seiner Sozialisation rekapituliert, benennt er deutliche Parallelen zu Bernhards Autobiographie, wo ebenfalls die Kindheit im Internat als Hölle beschrieben wird: Dabei beruft er sich ausdrücklich auf ein Bernhard-Zitat aus der Erzählung Ungenach (1968): „Sich der Kindheit als Todesursache ausliefern, lese ich, der Begriff Herrschaft bedeutet in jedem Fall Schreckensherrschaft, und ich lese meine eigene, dieser Bemerkung (von Thomas Bernhard) angefügte Bemerkung: ‚und Schreckensherrschaft bedeutet in jedem Fall Vater-Herrschaft‘…“ Auch im Roman Liquidation (2003) finden sich Anspielungen auf Bernhard: nicht nur durch das Motiv eines nie vollendeten oder nicht auffindbaren Hauptwerks bzw. seiner Vernichtung, sondern auch durch eine vom Protagonisten verfasste Theaterszene „in der Art von … Thomas Bernhard“, in der ein entscheidendes Gespräch über die Folgen der Shoah wiedergegeben wird.

Eine äußerst leidenschaftliche Reaktion provozierte Bernhards Werk bei Hervé Guibert, einem französischen Autor, Fotografen und Videokünstler (1955-1991). Sie stand im Zeichen seiner unheilbaren Aids-Erkrankung und ist vor allem in seinem Bestseller Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat (1990, dt. 1991) nachzulesen. Einerseits übernahm Guibert aus Bernhards Werk Strategien zur Bewältigung der eigenen Krankheit, andererseits führte die weit gehende Identifikation zu einer konfliktgeladenen Auseinandersetzung mit dem Vorbild – im Angesicht des Todes: Die „Bernhardsche Metastase“ habe sich „gleich der Ausbreitung von HIV“, das in seinem Blut die Lymphozyten verwüste und seine Immunkräfte zusammenbrechen lasse, „mit Höchstgeschwindigkeit“ in seinem Körper und in seinen „vitalen Schreibreflexen ausgebreitet“, schreibt Guibert; sie nehme sein Schreiben gefangen, „um ihre verwüstende Herrschaft darauf auszudehnen“.

Der Norweger Jon Fosse (geb. 1959) ist im deutschsprachigen Raum vor allem als erfolgreicher Dramatiker bekannt. Gleichzeitig ist er einer der Übersetzer Bernhards ins Norwegische: 1997 übertrug er das Stück Ritter, Dene, Voss in diese Sprache, 1999 folgte noch Am Ziel. Wenn Fosse von seiner Faszination für Thomas Bernhard spricht, bezieht er sich jedoch v. a. auf dessen Romane: „Die Verzweiflung steckt in der Musik seines Schreibens“, sagt er. „Und diese Musik kommt in den Romanen am besten zum Ausdruck.“ Am überzeugendsten lässt sich Bernhards Einfluss in Fosses Roman Melancholie(1995/96, dt. 2001) nachweisen. Er handelt vom Leben des norwegischen Landschaftsmalers Lars Hertervig (1830-1902), der sich hoffnungslos in die 15jährige Tochter seiner Vermieterin verliebt und in der Folge dem Wahnsinn verfällt. Fosse siedelt den gesamten Text im Kopf seiner Hauptfiguren an, deren Sprachstrom er wiedergibt; wie bei Bernhard ist Fosses Stil von auffälligen Wort- und Satzwiederholungen geprägt.

Auch der in Verona (Italien) lebende Engländer Tim Parks (geb. 1954), bei dessen Büchern man gewiss nicht gleich an Thomas Bernhard denken würde, spricht von seiner Begeisterung für die Romane des Österreichers. Am besten lässt sich die Wirkung Bernhards, dessen Texte Parks übrigens auf Italienisch kennen lernte, auf das Werk des Engländers an dessen Roman Destiny (Schicksal; 1999, dt. 2001) zeigen. Schon der erste Satz von Schicksal erinnert deutlich an Thomas Bernhard; er ist wie der Eröffnungssatz von Bernhards Roman Auslöschung aufgebaut, wo Franz-Josef Murau, der Protagonist, vom tödlichen Unfall der Eltern erfährt (bei Parks wird dem Romanhelden der Tod seines Sohnes mitgeteilt). Im gesamten Text begegnet man andauernd stilistischen Eigenheiten Bernhards, z.B. den bekannten Formeln „denke ich“ bzw. „dachte ich“, hier als Markierungen einander überlagernder Bewusstseinsschichten, von Erinnerungen und später erfolgten Reflexionen.

Die wohl größte mediale Aufmerksamkeit im Hinblick auf seine literarische Anknüpfung an Thomas Bernhard erfuhr nach seiner deutschsprachigen Veröffentlichung der letzte Prosaband des US-amerikanischen Autors William Gaddis (1922-1998) Agapē Agápe (Das mechanische Klavier; 2002). Das Buch hat erneut die Form eines Monologs – immer wieder begegnen wir dieser erzählerischen Grundkonstellation, die bekanntlich für Bernhards Werk grundlegend ist. Diesmal ist der Protagonist ein todkranker Autor, der seine große Studie nicht mehr wird vollenden können: die Kritik an einer Epoche, in der Literatur, Malerei und Musik zunehmend von kommerziell erfolgreicheren Unterhaltungsformen, die sich an den Massengeschmack angepasst haben, verdrängt zu werden drohen. Durch die Begegnung mit Bernhards Beton (1982) findet er eine literarische Form für sein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen. Dabei beklagt er sich ironisch, dass Bernhard jene Worte vorweggenommen hat, die er selbst hätte verwenden wollen: „Es ist nämlich meine erste Seite, mein Buch, er, Thomas Bernhard hat es plagiiert, noch bevor ich überhaupt eine Zeile davon zu Papier bringen konnte!“

Der polnische Autor Wojciech Kuczok (geb. 1972) bekam 2004 für seinen Roman Gnój (Dreckskerl; 2004, dt. 2007) den angesehenen Literaturpreis NIKE verliehen; auch die Verfilmung von Magdalena Piekorz unter dem Titel Pręgi (dt.: Striemen), zu der Kuczok das Drehbuch nach seinem Roman verfasste, war ein großer Erfolg. Bei der Arbeit an seinem Text, der wütenden Abrechnung des Protagonisten mit seiner Familiengeschichte, habe er unter dem Einfluss der autobiografischen Prosa Bernhards gestanden, so Kuczok. Bemerkenswert ist auch die Weiterwirkung seiner „Antibiografie“, wie sie im Untertitel heißt: Der prominente polnische Politiker, Dissident und Publizist Adam Michnik deutete in seinem Essay Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn (2005) Kuczoks „Geschichte einer familiären Hölle“ als Bild Polens, über das seine Landsleute „ungern sprechen oder nachdenken, sondern gewöhnlich schweigen“.

Als „englischer Thomas Bernhard“ wurde Gabriel Josipovici (geb. 1940) bezeichnet, als sein bereits 1994 veröffentlichter Roman Moo Pak 2010 in deutscher Übersetzung herauskam. Wie in Bernhards Gehen (1971) gehen zwei Männer durch eine Stadt, hier durch Londons Parks. Einer von ihnen, wie sein Autor ein aus Ägypten stammender sephardischer Jude und Universitätsdozent redet unablässig, u.a. über ein Romanprojekt, das er verfolgt. Sein Monolog handelt von den unterschiedlichsten Themen, von Chaos und Ordnung, von Exil und Fremdheit, von seinen Lektüreerfahrungen und von seiner Skepsis gegenüber den Auswirkungen der Moderne. Der Titel ist eine aus Kindermund verfremdete Version von „Moor Park“, dem Namen des Landsitzes von Jonathan Swifts Dienstherrn Sir William Temple.

Eine völlig andere literarische Antwort auf Bernhards Gehen trägt den Titel Ausgehen und stammt von der aus Belgrad stammenden Germanistin Barbi Marković (geb. 1980). Das 2009 erschienene Buch besteht aus einer teilweise bis in die Wortfolge und die Satzrhythmik getreuen Übertragung von Bernhards Erzählung in die Welt dreier Clubberinnen in Belgrad. Nur spricht darin eine Ich-Erzählerin mit Milica über Bojana, die das Clubben endgültig satt hat und mittlerweile lieber vor dem Fernseher sitzt als in die Disco zu gehen – ein veritabler Remix der fast vierzig Jahre alten literarischen Vorlage: „Wenn wir nicht immerfort gegen die Clubs, in die wir gehen, ausgehen, sondern im Einklang mit den Clubs, in die wir gehen, sagt Milica, gehen wir in der kürzesten Zeit zugrunde.“

Der Text ist eine gekürzte und zugleich aktualisierte Version meines Artikels: Antworten auf Thomas Bernhard aus der internationalen Literatur. In: Cultura tedesca 32 (Gennaio-Giugno 2007): Thomas Bernhard, S. 159-179.