Gideon Lewis-Kraus

Der allerwichtigste Grund für Bernhards ungemeine Popularität bei uns ist: Wir sind, ganz anders als Leser anderswo, vertraut mit einer bestimmten Tonlage in der Literatur, die auch bei Bernhard zu hören ist. Er ist uns nah. Der englische Schriftsteller Geoff Dyer hat diese Tonlage als „Literatur der Neurasthenie“ bezeichnet und meinte damit neurotisches Sorgenmachen und quengeliges Beschwerden. Dyers Wortschwalltiraden –  zum Beispiel darüber, wie grässlich es  ist, ohne seine  Lieblingssorte Donut durch den Tag zu kommen – haben unserer Generation beigebracht, wie man Bernhard liest. Wir New Yorker sehen ihn sofort und – ohne groß nachzudenken – in der Tradition von Groucho Marx über Woody Allen bis hin zu Fran Drescher aus Die Nanny. Anders gesagt: Wir können Bernhard auf eine Art unterhaltsam und witzig, ja geradezu wahnsinnig komisch finden, die deutsche Leser nicht haben. … Bernhards Erzähler hassen die Welt nicht. Sie liebten sie einfach so sehr, dass sie sie unerträglich fanden. Fast jeder, schrieb Bernhard einmal, zerstöre sich selbst zwischen Verachtung und Bewunderung. Das einzige, was uns davon abhält, uns kaputt zu machen, ist die Art von Witz, die den Absurditäten des Lebens mit ein bisschen Missgunst begegnet. Bernhard war kein Misanthrop, genauso wenig wie die Nanny Fran Drescher eine Nervensäge. Die beiden wollten einfach nur größere Portionen.

(Aus Woody Allen, die Nanny, Thomas Bernhard und ich, 2011)